Niklas Kaul krönt mit 21 Jahren seine Karriere Weltmeister mit Luft nach oben

„Alles, was jetzt kommt, ist Bonus“, sagt der neue Weltmeister Niklas Kaul nach seinem Erfolg. Foto: AFP/Andrej Isakovic (2), Baumann, dpa/Peter Endig/Michael Kappeler

Der neue Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul ist mit 21 Jahren der jüngste Titelträger aller Zeiten – und hat sein Potenzial noch lange nicht ausgereizt.

Doha - Sein neues Leben als König der Athleten beginnt in einem Whirlpool. Mit einer Flasche Bier in der Hand sitzt Niklas Kaul morgens um sechs in fünfzig Meter Höhe im warmen Wasser und blickt dem Sonnenaufgang über der Wüste entgegen und dem neuen Tag, an dem nichts mehr so sein wird wie bisher. Ihm bleibt eine Stunde Schlaf, dann lernt er zum ersten Mal kennen, was es bedeutet, ein Star des deutschen Sports zu sein.

 

Er wird im „Morgenmagazin“ der ARD zugeschaltet und danach in der Nachrichtensendung einer Infostation, es folgen eine Pressekonferenz im Teamhotel und eine Liveschaltung ins „Mittagsmagazin“ des ZDF. Zwischendurch eine Dopingkontrolle, die dritte an vier Tagen, und am späten Nachmittag der Höhepunkt und Grund für all den Auftrieb: die Fahrt ins Khalifa-Stadion, die Siegerehrung, die Nationalhymne. Und, natürlich, die nächsten Interviews. Keine Zeit bleibt für die knapp tausend Nachrichten, die fast im Sekundentakt sein Mobiltelefon erreichen.

Kaul galt schon früh als Jahrhunderttalent

Niklas Kaul (21) ist seit Freitagmorgen, 0.35 Uhr Ortszeit in Doha, Katar, Weltmeister im Zehnkampf. Er ist der erste deutsche Goldmedaillengewinner bei dieser verunglückten Leichtathletik-WM am Persischen Golf, der jüngste Titelträger aller Zeiten in seiner Disziplin. Es werde einige Tage dauern, bis er all das verarbeitet habe, sagt der Weltmeister, „im Moment genieße ich einfach alles und sauge auf, was da passiert“.

In seinem bisherigen Leben war Niklas Kaul ein zielstrebiger, bescheidener, in vielerlei Hinsicht hoch begabter junger Mann mit Schuhgröße 48, von dem die Welt keine Notiz nahm. Klar, er galt schon früh als Jahrhunderttalent und räumte bei Junioren-Welt- und -Europameisterschaften sämtliche Goldmedaillen ab. Aber wen interessiert das schon in einem Land, in dem im Fernsehen lieber Viertligaspiele im Fußball als Weltklassemeetings in der Leichtathletik übertragen werden?

„Wenn ich mal mein Studium schleifen lasse, dann klopfen sie mir auf die Finger“

Seit er zehn Jahre alt ist, übt Niklas Kaul seinen Sport beim Universitäts-Sportclub Mainz aus. „Es ist wie eine große Familie, ich kenne jeden, all die Ehrenamtler mit ihrem Herzblut.“ Zwei davon sind seine Eltern, früher selbst erfolgreiche Leichtathleten, der Vater heute am Bildungsministerium Rheinland-Pfalz beschäftigt, die Mutter stellvertretende Schulleiterin. Gemeinsam trainieren sie den Sohn. „Sie sagen immer, ich soll den Sport so lange ausüben, wie ich Spaß habe“, sagt Niklas Kaul. „Und wenn ich mal mein Studium schleifen lassen, dann klopfen sie mir auf die Finger.“

Praktischerweise liegt das Gelände seines Sportvereins auf dem Campus der Johannes-Gutenberg-Universität. Das spart viel Zeit, wenn Niklas Kaul vom Training zu den Vorlesungen eilt und umgekehrt. Er studiert Physik und Sport auf Lehramt – und denkt nicht daran, an diesem Modell der dualen Karriere auch nur irgendetwas zu ändern: „Es wäre ein großer Fehler, jetzt den Fokus noch mehr auf den Sport zu legen“, sein bisheriges System habe ja so prächtig funktioniert. Zwar nehmen die Sportkarriere und die damit verbundenen Verpflichtungen erst jetzt so richtig Fahrt auf – „das heißt aber nicht, dass es so erfolgreich weitergeht. Der Sport ist nicht berechenbar.“

Mit dem Krafttraining hat er noch gar nicht richtig begonnen

Wenn der Eindruck nicht trügt, könnte ihn allerdings einzig eine schwere Verletzung davor abhalten, den internationalen Zehnkampf auf Jahre hinaus zu dominieren. Niklas Kaul ist ja erst ganz am Anfang. Im Training mit seinen Eltern hat er bisher den Schwerpunkt vor allem darauf gelegt, die technischen und körperlichen Grundlagen zu schaffen, „damit ich in der Lage bin, auf hohem Niveau konstant trainieren und meinen Sport möglichst verletzungsfrei betreiben zu können“. Mit dem Krafttraining hat er noch gar nicht richtig begonnen, im Sprint und Sprung etwa gebe es „noch viel Luft nach oben“. Wo soll das alles hinführen, wenn er jetzt schon Weltmeister ist?

Es ist aber nicht allein sein sportliches Leistungsvermögen, das aus Niklas Kaul einen noch viel größeren Athleten machen könnte, als er jetzt schon ist. Sondern auch der Kopf, in dem auf höchstem Niveau sehr viele Sportarten entschieden werden, vor allem der Zehnkampf.

Nie zuvor hat ein Zehnkämpfer den Speer so weit geworfen

Bei seinem WM-Coup in Doha spürte er vor dem Speerwerfen, der vorletzten Disziplin, zum ersten Mal die Wucht des Moments und erkannte die große Chance, die sich plötzlich auftat. Nach der Aufgabe des französischen Weltrekordlers und Topfavoriten Kevin Mayer im vorangegangenen Stabhochsprung war nicht mehr nur eine Medaille möglich, sondern auch der Weltmeistertitel.

„Nervös wie nie“ sei er gewesen – und schleuderte den Speer im zweiten Versuch auf 79,05 Meter. Nie zuvor hat ein Zehnkämpfer diese Weite erreicht. Niklas Kaul gelang es mit 21, im wichtigsten Moment seiner bisherigen Karriere. Vor dem abschließenden 1500-Meter-Lauf saß er in den Katakomben und sagte sich: „Diese Chance bekommst du vielleicht nie wieder. Deshalb musst du sie nutzen.“ Er lief dem Rest des Feldes einfach davon und hatte im Ziel fast sieben Sekunden Vorsprung.

An Ashton Eaton dachte er, den zweimaligen Zehnkampf-Olympiasieger aus den USA, den Niklas Kaul vor Jahren beim Hallentraining besuchen durfte. Was sein Erfolgsgeheimnis sei, fragte er den Superstar und erhielt die Antwort: Auch bei ganz großen Wettkämpfen lässt sich die bestmögliche Leistung nur mit Lockerheit erzielen. „Das hat mich sehr geprägt“, sagt Kaul, „das hilft mir immer wieder in entscheidenden Situationen.“

„Niklas kann eine Ära prägen“, sagt der zweimalige Olympiasieger Ashton Eaton

An diesem Samstag fliegt der Weltmeister zurück nach Deutschland – und weiß: Auch dort werden viele Termine auf ihn warten. „Wenn sich das alles gelegt hat, muss aber wieder Normalität in meinen Alltag einkehren“, sagt Niklas Kaul. Eine längere Pause ist nicht geplant. Mitte Oktober startet das neue Semester, die Trainingspläne für die kommenden Wochen und Monate sind auch schon ausgearbeitet. Die Olympischen Spiele 2020 in Tokio sind sein nächstes großes Ziel, doch denkt er auch schon an Paris 2024 und Los Angeles 2028. Erst dann, so erklärt er, werde er „im besten Zehnkampfalter“ sein.

„Niklas kann eine Ära prägen“, sagt Ashton Eaton. „Alles, was jetzt noch kommt, ist Bonus“, sagt der neue König der Athleten.

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