Im Berufsbildungszentrum der Nikolauspflege schnuppern 25 Schlossrealschüler ins Arbeitsleben hinein.

Lokales: Sybille Neth (sne)

S-West - Über Inklusion, also die Integration von behinderten Menschen in den Schul- und Berufsalltag von nicht behinderten Menschen, wird viel diskutiert. Die 25 Schüler und Schülerinnen der Klasse 8b der Schlossrealschule haben eine Woche lang Inklusion hautnah erlebt. Ein Praktikum beim Berufsbildungswerk der Nikolauspflege am Kräherwald brachte ihnen nicht nur Erfahrungen in den Berufsfeldern Ernährung und Hauswirtschaft, Gartenbau, Metall verarbeitende Berufe, Informationstechnik sowie Wirtschaft und Verwaltung, sondern auch eine neue Einstellung gegenüber Menschen mit einer Behinderung.

 

Schlossrealschüler Can Akgül lernt die Metallwerkstatt kennen. Er trägt eine Schutzbrille und eine spezielle Kappe, deren großes Stirnschild dafür sorgt, dass er mit dem Kopf nicht zu nah an die rotierenden Scheiben der Schleifmaschine kommt. Der Schüler versucht, einen kleinen Stahlstift exakt auf die Länge von fünf Zentimetern zu kürzen. Sein Mitschüler Patrick Goncalves Gomes wird als nächster dran sein. Damit die beiden überhaupt mit der Maschine zurecht kommen und ein Gefühl dafür entwickeln, wie viel von dem kleinen Stift noch abgenommen werden darf, steht Marvin Mertens dabei und passt auf, dass aus dem kleinen Stift tatsächlich eine Spielfigur zum Stecken für das Mühlspiel wird, das die Schlossrealschüler in der Werkstatt anfertigen. Mertens ist Auszubildender im Metall verarbeitenden Bereich des Berufsbildungswerks der Nikolauspflege und wie alle 13 Lehrlinge, die dort ausgebildet werden, ist er sehbehindert. Dennoch behält er den Überblick und die beiden Realschüler lernen von ihm.

Die Kooperation hat erst vor Kurzem begonnen

Für deren Klassenlehrerin Brigitte Schneider ist die Praktikumswoche eine neue Erfahrung, denn die Kooperation hat erst vor Kurzem begonnen. „Jetzt sind wir einmal die Außenseiter, hat in der Pause eine Schülerin gesagt. Allein dieser Satz spricht schon für das Experiment“, sagt die Lehrerin. „Inklusion ist ein großes gesellschaftliches Thema. Aber wir müssen Begegnungen dieser Art schaffen. Nur so kommen wir zu einer inklusiven Gesellschaft“, sagt Ulrike Bauer-Murr, die Leiterin des Berufsbildungsbereich bei der Nikolauspflege. „Wir wollen schließlich erreichen, dass unsere Azubis, wenn sie in einen Betrieb gehen, nicht als Exoten betrachtet werden“, sagt sie.

Der Ausbilder Marius Klotz trainiert mit den sehbehinderten Jugendlichen das Arbeiten an den Maschinen. „Die haben zum Beispiel diese Schutzkappen auf“, erklärt er. Wer schlecht sieht, hat die Neigung, dem Objekt möglichst nahe zu kommen. Für manchen eignet sich auch eine spezielle Lupenbrille, bei der auf einem Glas eine Lupe angebracht ist. „Das erfordert mehrere Monate Eingewöhnungszeit, bis man damit umgehen kann“, sagt Klotz. Aber nicht nur technische Hilfsmittel helfen den Sehbehinderten im Berufsalltag, sondern auch bestimmte Verhaltensregeln. „Sie lernen, sich langsam zu bewegen und so ihr eigenes System zu finden“, sagt Klotz.

„Es ist nicht so schlimm, wie ich mir es vorgestellt habe“

Die Schlossrealschüler ihrerseits haben am ersten Tag des Praktikums gelernt, wie es ist, wenn das Sehen nicht selbstverständlich ist und erhebliche Konzentration erfordert. „Wir haben dafür Simulationsbrillen, die schwarz abgeklebt sind und bei denen nur ein winziges Loch zum Durchgucken frei ist“, erklärt Erdmuthe Hemmann-Kuhne vom Psychologischen Dienst der Nikolauspflege. Sie trainiert mit den Schlossrealschülern, sich in die Rolle eines Behinderten einzufühlen.

Im Vordergrund des Projekts steht jedoch die individuelle Erfahrung der Schüler mit verschiedenen Berufsfeldern. So wie David Liberov, der zum ersten Mal in seinem Leben in der Lehrküche der Nikolauspflege einen Marmorkuchen zusammenrührt und zugeben muss, dass er dem Hauswirtschaftsbereich jetzt nicht mehr nur negativ gegenüber steht. „Es ist nicht so schlimm, wie ich mir es vorgestellt habe.“ Danach wechselte er zu den kaufmännischen Berufen, auf die er sich gefreut hatte. Anders seine Mitschülerin Marigona Ahmeti, die in der Metallwerkstatt Metallstifte zu Steck-Spielfiguren für ihr Mini- Mühlespiel zurechtsägt. „Ich möchte später lieber einmal einen Bürojob“, sagt sie. „Aber ich möchte es anderen Mädchen weiterempfehlen, auch einmal so etwas auszuprobieren“, sagt sie.

Die Körschtalschule aus Plieningen hatte als erste an den Werkstatttagen der Nikolauspflege teilgenommen. Als dritte wird die Ernst-Abbe-Schule aus Zuffenhausen folgen. Das Projekt, mit dessen Hilfe die 14-bis 15-jährigen Achtklässler mit der Arbeitswelt konfrontiert werden, und bei dem sie ihre Vorlieben und Abneigungen gegenüber bestimmten Berufen entdecken können, wird vom Bundesinstitut für berufliche Bildung und vom Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg gefördert.