Nils Schmid findet, dass die Sozialdemokraten in den vergangenen fünf Jahren gute Arbeit geleistet hätten und dass Substanz sich auszahle: „Davon bin ich überzeugt“.

Stuttgart - Auf Schätzungen versteht sich Nils Schmid besser als Winfried Kretschmann. Steuerschätzungen sind sein Metier. Aber auch bei Linsen kennt er sich aus. Fast genau errät er die Anzahl der Linsen in einem Glas – 20 000 sagt er, 19 700 sind es. Der Ministerpräsident liegt weit daneben. Dennoch kommt Kretschmann beim Privatschulverband, der den Spaß mit den Linsen gemacht hat, deutlich besser an als Schmid.

 

Akribie ist wenig publikumswirksam. Schnell steht man als Erbsenzähler da. Den Spitzenkandidaten der baden-württembergischen SPD scheint das nicht anzufechten. Er ist analytisch, vernunftgeleitet, fleißig, ruhig. Fast wundert einen, dass Nils Schmid für die SPD in Baden-Württemberg in den Wahlkampf zieht. Das nüchterne Betrachten der Zahlen lässt die Sache aussichtslos erscheinen. Mal zeigen die Umfragen 13 Prozent, mal 14, gelegentlich 16 Prozent für die Sozialdemokraten. Ist der nüchterne Zahlenmensch etwa ein Don Quichotte in Rot?

Nils Schmid sieht sich keineswegs als tragischen Helden. Auch nicht als strahlenden. „Noch nicht“, schränkt er selbstironisch grinsend ein. Wo seine Genossen schier verzagen, angesichts der großen Differenz zwischen der Zustimmung zur grün-roten Landesregierung und den miserablen Umfragewerten der SPD, sieht ihr Frontmann das Potenzial. „Die Sozialdemokratie ist auf der Seite der Zuversicht und nicht der Angst“, kleidet der Prädikatsjurist das Selbstverständnis der alten Arbeiterpartei in erhabene Worte. Blauäugig ist Schmid aber nicht. „Die Schlussmobilisierung ist besonders wichtig“, sagt der 42-Jährige mit der Abgeklärtheit eines Routiniers.

Potenzielle Nachfolger lauern schon

Was treibt ihn an, in diesem Wahlkampf, bei dem er auf verlorenem Posten zu stehen scheint? Kein Gedanke mehr, dass die SPD die Grünen überflügeln könnte, was man nach der Wahl 2011 fest vorhatte, als die SPD um einen Prozentpunkt die Führung der Regierung verpasste. Jetzt muss Nils Schmid bangen, dass die Sozialdemokratie nicht hinter die AfD zurückfällt.

Der Spitzenkandidat und Landesvorsitzende wird für das Wahlergebnis verantwortlich gemacht werden. Es wird wieder ein historisch schlechtes werden, davon kann man ausgehen und die Partei ist nicht zimperlich mit ihrem Führungspersonal. Die potenziellen Nachfolger lauern schon, heißt es in der SPD. Das alles schreckt Nils Schmid nicht. Ihn treibt die Überzeugung an. Der Familienvater spricht viel von Haltung, von Anstand. „Steigerungsfähig“ nennt er die miserablen Umfrageergebnisse lakonisch und ist entschlossen, sich nicht entmutigen zu lassen. „Auf die SPD kommt es an“, wiederholt er unentwegt. „Nein, das ist kein Mantra, das ist die Wahrheit“. So einfach ist das.

Der Finanz- und Wirtschaftsminister zieht zuversichtlich und gelassen in den Wahlkampf. So sitzt er auch in dem kleinen Bus, den außen sein überlebensgroßes Konterfei ziert. Er sagt, dass die Sozialdemokraten in den vergangenen fünf Jahren gute Arbeit geleistet hätten und dass Substanz sich auszahle. „Davon bin ich überzeugt“. Die stoische Ruhe lässt Schmid gelegentlich fast gelangweilt wirken. Nie hebt er die Stimme, nur in äußersten Fällen lächelt er öffentlich. Er sagt, er könne das Wahlprogramm unendlich oft wiederholen. „Das ist eine reine Frage der Kondition. Ich habe eine gute Kondition“. Die holt er sich beim Ballsport. Jüngst ist er ins Tennistraining eingestiegen. „Das ist nett, Tennis ist eine technische Sportart“. Alles was mit Ball zu tun hat, macht ihm Spaß. „Das bringt Abwechslung und etwas Unberechenbares“. Schwimmen tut er auch, aber „das geht halt hin und her“.

Trotz harten Einstiegs ist Schmid bei der Politik geblieben

Der Reutlinger ist ein alter Hase im Landtagsbetrieb. Mit 23 Jahren zog er für den Wahlkreis Nürtingen überraschend in den Landtag ein, als Ersatzkandidat des verstorbenen Werner Weinmann. Da war Schmid noch Student. Er kam in eine zerstrittene Fraktion. „Der Anfang war eine harte Schule“, sagt er im Rückblick. Doch er ist bei der Politik geblieben. Diszipliniert und zielstrebig hat er neben der Parlamentstätigkeit her beide juristische Staatsexamen ablegt, mit Eins. Die Doktorarbeit mit summa cum laude.

Doch noch immer lässt er sich von der Politik überraschen. Besonders im Wahlkampf, der ihm richtig Spaß macht und noch Wochen dauern könnte. Da erlebt er „Landespolitik aus einem anderen Blickwinkel“. Der Wirtschaftsminister ist begeistert von dem Zulieferer Mack, der aus Dornstadt im Alb-Donau-Kreis CNC-Frästeile für die unterschiedlichsten Branchen liefert, vom Zahnersatz bis zum Porsche-Tankdeckel.

Ausgiebig fachsimpelt er mit den Firmenchefs, begleitet nur von einem Dutzend versprengter Genossen aus dem tiefschwarzen Wahlkreis Ehingen. Schmid lobt den Gründergeist der Baden-Württemberger. „Dafür braucht man nicht ins Silicon Valley zu fahren. Bei uns gründen sich die Firmen in ausgedienten Scheunen und Ställen“. Der örtliche SPD-Kandidat, der weiß, wie es ist auf verlorenem Posten zu stehen, ist seinerseits angetan von seinem Landesvorsitzenden. „Nils Schmid ist ein super netter Kerl, der ist total unterbewertet“, sagt Alex Kübek-Fill.

Schmid zeigte sich wehrhaft und machtbewusst

Begeistert und aufgeschlossen klingt Schmid auch, wenn er erzählt, dass der mit der Sozialministerin Katrin Altpeter zum ersten Mal in einem Zentrum für Psychiatrie war. „Das war was ganz Besonderes“. Als Politiker erlebt er „die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt“. Das reizt ihn. „Als Anwalt hätte man ein Spezialgebiet.“

Es lief nicht alles rund für Nils Schmid in der zu Ende gehenden Wahlperiode. Die von ihm inthronisierte Kultusministerin scheiterte und wurde durch den Favoriten der Fraktion ersetzt. Die Machtverhältnisse hätten sich verschoben, und zwar weg von Schmid hin zum Fraktionsvorsitzenden Claus Schmiedel, raunten Freunde wie Gegner. Übernommen habe sich Schmid mit der Doppelfunktion als Finanz- und Wirtschaftsminister und dem Parteivorsitz noch dazu, hieß es in der Mitte der Legislatur. Doch Schmid wusste sich zu wehren. Machtbewusst überwältigte er den übermächtigen grünen Koalitionspartner mit der überraschenden Ankündigung einer frühen Nullverschuldung.

Der Finanzminister schmiedete Pakte mit den Kommunen zur Kinderbetreuung und zum Ganztag in Grundschulen. Die Hochschulen bekamen einen neuen Finanzierungsvertrag, Lehrerstellen wurden nicht gestrichen. Der von der Opposition als „kleiner Nils“ Verhöhnte, gewann an Statur. Viermal gelang dem Finanzminister die Nettonullverschuldung.

Auf der harten Tour gibt es auch Streicheleinheiten

„Mir ist einer lieber, der schafft, als einer der’s Maul aufreißt“, sagt eine Ludwigsburgerin beim dortigen Aschermittwoch über den Spitzenkandidaten. Bei den Wahlkampfveranstaltungen will der Funke nicht recht überspringen. Schmid antwortet gewissenhaft und ausführlich auf Fragen des Publikums. Er bevorzugt kleine dialogorientierte Formate. In Heidenheim finden sich immerhin 180 Leute ein. Sie beklatschen den Lokalmatador Andreas Stoch und finden den Landesvorsitzenden „ein bisschen professoral“. Aber sie sagen auch „der Spitzenkandidat ist besser als sein Ruf“. Auch hier wird das Publikum eingebunden. Es ist Nils Schmid, der nach dem offiziellen Teil die Fragesteller sucht, die nicht zum Zuge kamen, um ihnen die Antwort nicht schuldig zu bleiben. Es gibt auch Streicheleinheiten auf dieser harten Wahlkampftour. In Ulm macht der SPD-Landesvorsitzende eine Stippvisite bei Oberbürgermeister Ivo Gönner, der zum Zeitpunkt des Besuchs die letzten Tage im Amt ist – und eine SPD-Ikone an Volksverbundenheit und Jovialität. Der barocke Gegenpart zum spartanischen Schmid. Man plaudert bei einem „Häfele Kaffee“ (Gönner) und einer Tasse Tee (Schmid) über Infrastruktur („da hast du viel geholfen“, lobt der OB den Finanzminister), über Heimat („damit haben wir uns lange schwer getan“, sagt Gönner über seine Sozialdemokraten). Zum Abschied gibts ein beinahe väterliches aufmunterndes Schulterklopfen für den Matadoren. „Gutes Gelingen“, sagt Gönner. „Und es wird gelingen“, schiebt er nach.

Der Spitzenkandidat wirkt keineswegs verzagt. Bei dieser Reise durch den Winter konnte der Landesvorsitzende sogar ein nagelneues leuchtend rotes Parteibuch unterschreiben. Die Ulmer Industriekauffrau Christina Rühle ist in die SPD eingetreten. „Mit Fleiß“, wie man in der Gegend sagt. Oder, „jetzt erst recht“. Die können Unterstützung gebrauchen, habe sie sich gedacht.

Auf der Heimfahrt im Busle zieht die Nummer eins der baden-württembergischen Sozialdemokratie eine positive Bilanz des anstrengenden Tages. Nur eins hat er auszusetzen: „Das Abendessen war schmal“. Es gab ein Käsebrötchen.