Die Junge Oper inszeniert ein Stück, in dem blinde Kinder und Jugendliche mitspielen. „Nimmerland“ thematisiert das Alleinsein. Die Aufführungen sind ausverkauft.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Als Barbara Tacchini die Mädchen und Jungen nach ihrem größten Wunsch fragte, war sie überrascht. Maria und Niko sind blind. Halime hat eine geistige Behinderung, Remy eine Spastik. Tacchini hatte erwartet, dass die Kinder und Jugendlichen sich nur eines wünschen würden: endlich sehen zu können, einfach nur gesund zu sein. So ist es aber nicht. Fast alle haben dieselben Wünsche geäußert. Sie möchten besser behandelt werden. Sie wollen, dass man sie ernst nimmt und nicht mehr mobbt, nur weil sie nicht wie andere Kinder sind. „Ihr Problem ist nicht ihr Körper“, sagt Barbara Tacchini, „ihr Problem sind die anderen Menschen.“

 

Die Mädchen und Jungen stehen in gelben Ölmänteln auf der Probebühne der Stuttgarter Oper und sollen winken. Aber woher weiß ein Mensch, der nichts sieht, wie man winkt? Für Barbara Tacchini ist das ein eher geringes Problem. Sie ist Regisseurin an der Jungen Oper Stuttgart und hat mit sehenden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen „Nimmerland“ erarbeitet. Heute Abend hat das ungewöhnliche Musiktheaterprojekt im Kammertheater Premiere. Ein Projekt, bei dem sich der Regisseurin Fragen stellten, auf die sie bisher nie gekommen wäre: Wie studiert man einen Text mit jemandem ein, der kein Kurzzeitgedächtnis besitzt? Wie kann sich ein Blinder auf der Bühne bewegen? Und weiß ein geistig behindertes Kind überhaupt, was Theater bedeutet?

„Mein Zuhause ist nicht hier“, singt Remy ins Mikrofon, „das hier ist nicht meine Stadt.“ Remy spielt den Star von Radio Nimmerland. In dem Kinderbuch „Peter Pan“ ist Nimmerland ein Ort, an dem Kinder nicht erwachsen werden müssen. Bei der Jungen Oper ist Nimmerland dagegen ein Zufluchtsort für die Unglücklichen und Einsamen. Die Kinder und Jugendlichen haben das Stück gemeinsam entwickelt und eigene Erfahrungen eingearbeitet, seien es ewig streitende Eltern oder Werbeszenen: „Auf zum Nimmerlandsshop, schnell, schnell, die Nachbarschaft schläft nicht.“ Das eigentliche Thema aber ist das Alleinsein, das einige schon früh kennengelernt haben, weil sie wegen ihrer Behinderung ins Internat kamen. „Du Versager“, ruft jemand im Stück – und die Gruppe der verzweifelten Kinder singt trotzig zurück: „Ich will nach Nimmerland.“

Aus Niko wird Captain Hook

Ursprünglich hatte Barbara Tacchini das Projekt anders geplant. Sie inszeniert seit vielen Jahren Opern für Kinder und Jugendliche – und versucht dabei immer, auf der Bühne möglichst viel Spektakel zu bieten, „um das Hören erträglich zu machen“.

Deshalb wollte Tacchini erforschen, wie Kinder und Jugendliche hören, die nichts sehen. Sie nahm Kontakt mit der Betty-Hirsch-Schule für Blinde und Sehbehinderte am Kräherwald auf. Was Tacchini nicht wusste: die meisten Schüler sehen nicht nur schlecht oder gar nichts, sondern haben weitere Behinderungen. „Das hat einiges verändert“, sagt Tacchini, „damit muss man umgehen.“

Niko steht hinter einem Tisch und trommelt. „Ich habe hier alles beieinander, was ich brauche“, erzählt der 15-jährige Blinde, „da muss ich mich nicht bewegen.“ In „Nimmerland“ spielen die jungen Akteure zwar auch Kontrabass oder Flöte, der Klangkünstler Jochen Fassbender hat für die Produktion aber auch verschiedenste Instrumente gebaut aus Holz, Metall und Stein. „Ich spiele Steel Pan“, sagt Niko, „das sieht aus wie eine Pfanne, ganz komisch.“ Oder das Donnerblech: „Das hängt an Seilen, und wenn man draufschlägt, gibt es einen tiefen, bedrohlichen Ton.“ Eine kleine Rolle hat Niko auch: Er spielt den Captain Hook.

Anspruchsvolle Produktion

Zaghaft hebt Leon seine Hand und wiegt sie hin und her. Das schaut befremdlich aus, aber immerhin, er winkt jetzt. Die kleine Tamara flüstert ihm in der Szene jedes Mal zu, wie er winken soll. Für die zehn Kinder und Jugendlichen der Betty-Hirsch-Schule ist es selbstverständlich, dass man sich gegenseitig hilft, schließlich sind sie alle auf Unterstützung angewiesen. Drei von Ihnen brauchen sogar ständige Betreuung, so dass auf der Probe mehrere Helfer und zusätzliche Regiepraktikanten herumwuseln, Taucherflossen auf die Wäscheleine hängen oder mit einem Kind auf die Toilette gehen, hier jemanden zur richtigen Position begleiten oder dort einem Mädchen schnell über den Rücken streicheln, damit es sich wieder erinnert, dass es auf der Bühne sitzt. „Es ist ein wahnsinniger organisatorischer Aufwand“, sagt Barbara Tacchini.

Sie wiederholt jetzt schon zum fünften Mal die Szene, in der Halime Schwimmflossen anzieht, die sie nach Nimmerland bringen werden. „Ganz ruhig“, sagt Susanne Frimmel, „du kriegst das hin.“ Frimmel ist die Theaterpädagogin der Betty-Hirsch-Schule – und sie ist auch jetzt auf der Probebühne ständig in Aktion, schaut, spricht den Text mit oder schüttelt den Kopf, wenn etwas überhaupt nicht gelingen will. Seit elf Jahren leitet Susanne Frimmel die Theatergruppe „DunkelMunkel“, bei der sie selbst eine zentrale Rolle hat: Unauffällig in Schwarz gekleidet, assistiert sie den Kindern, hilft ihnen, sich auf der Bühne zu bewegen und flüstert ihnen den Text ein.

„Das machen wir während der Vorstellungen nicht“, sagt Barbara Tacchini entschieden. Sie will schließlich kein „nettes Behindertentheater“ machen, sondern hat den Anspruch, eine künstlerisch interessante Produktion auf die Bühne zu stellen, die das Publikum anspricht. „Es ist zwar eine Oper mit gehandicapten Darstellern“, sagt sie, „aber für die Zuschauer soll sie zu einem Erlebnis werden.“

Spielen und helfen

Dieses Ziel kann nur mit harter Arbeit erreicht werden. Die Regisseurin muss szenische Lösungen finden, so dass jede Bewegung inhaltlich motiviert erscheint und dass es „schön wird und sie sich nicht von ihrer unbeholfenen Seite zeigen“. Barbara Tacchini muss aber auch auf die Nichtbehinderten achten, die doppelt gefordert sind: Sie müssen ihre eigene Rolle spielen und gleichzeitig den anderen helfen sowie die Vorstellung strukturieren.

„Ich finde es schade, dass so viele Unterbrechungen stattfinden“, murrt Remy, weil er nun seit zwei Stunden probt und noch nicht einmal sein Lied komplett durchsingen konnte. Aber Tacchini muss die Szenen oft wiederholen, allein schon wegen der beiden Jungen ohne Kurzzeitgedächtnis. Marco spielt einen Familienvater – und bekam zur Vorbereitung eigens eine CD. „Da war der Text draufgesprochen“, erzählt er. Er benötigt zahllose Versuche, bis etwas verlässlich im Langzeitgedächtnis gespeichert ist. „Aber es macht sehr viel Spaß“, erzählt der 20-Jährige und weiß auch schon, wer seine Freikarten für die heutige Premiere bekommen wird: „Mama und Papa.“

„Hast du die Zähne geputzt?“, fragt Julia, die die Radiomoderatorin spielt und nun lustvoll mit einer dicken Bürste über das Mikrofon scheuert, so dass es fröhlich kracht und rauscht. Vieles findet in „Nimmerland“ auf der akustischen Ebene statt. Schon im Foyer bekommen die Zuschauer Klangplättchen, mit denen sie selbst Geräusche erzeugen können. Fassbenders Instrumente sind so konzipiert, dass man ihre Klänge körperlich spürt, auf der Bühne sind sie so verteilt, dass man sie auch räumlich wahrnehmen kann. Schließlich soll es auch ein Stück für blinde Zuschauer sein. Als Niko einmal in „Peter Pan“ im Großen Haus war, musste seine Lehrerin ihm zuflüstern, was auf der Bühne passiert. „Oper ist nicht so mein Ding“, sagt er, „auch wenn es Schlimmeres gibt.“

Getrennte Wege

Tacchini ist immer wieder überrascht, wie motiviert ihre behinderten Schauspieler sind. Sie ist gewöhnt, dass Jugendliche ständig nebenher quatschen und stören. „Das gibt es hier gar nicht.“ Die Betty-Hirsch-Schüler hören genauer zu und sind fantasievoller. „Sie haben auch kein Problem, sich vorzustellen, dass eine Badewanne zum See wird“, sagt sie. Was ihr besonders gefällt: „Sie lieben skurrile Dinge.“

Musiktheater mit und für Sehbehinderte – mit „Nimmerland“ betritt Tacchini Neuland. Aber sie macht sich nichts vor: die Kluft zwischen Theater und Wirklichkeit ist enorm. „Alle reden von Inklusion“, sagt sie, aber auch bei „Nimmerland“ findet sie letztlich nur auf der Bühne statt. Die nichtbehinderten Kids klüngeln in den Pausen zusammen und wollen lieber Spaß haben. „Sich mit einem behinderten Kind hinzusetzen ist anstrengend“, sagt Tacchini. Sie hat auch schon ein Intergenerationenstück inszeniert. Auf der Bühne gingen Alt und Jung vorbildlich miteinander um, danach trennten sich ihre Wege.

Mehr als ein halbes Jahr haben die Kinder und Jugendlichen nun miteinander an der Jungen Oper geprobt, während der Ferien sogar täglich. Eigentlich eine ideale Voraussetzung, um Freundschaften zu knüpfen. „Es wäre schön“, sagt Tacchini, „es ist aber eher unwahrscheinlich.“