Der Brite Peter Higgs und der Belgier François Englert erhalten den Nobelpreis für Physik. Sie haben schon 1964 theoretisch erklärt, wieso Elementarteilchen überhaupt Masse haben. Higgs wurde zum Namensgeber des Higgs-Teilchens.
Stuttgart/Stockholm/Genf - Der 4. Juli 2012 war ein historischer Tag für die Physik und für Europas Forschungszentrum Cern bei Genf. In einer Pressekonferenz gaben Wissenschaftler zweier Arbeitsgruppen bekannt, sie hätten „deutliche Hinweise“ auf den letzten bisher noch nie beobachteten Baustein der Materie gewonnen, das sogenannte Higgs-Teilchen.
Eine besondere Bedeutung hatte dieser Julitag des vergangenen Jahres für die beiden Physiker, denen gestern die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften den Physiknobelpreis 2013 zuerkannt hat. Der Tag damals brachte die kaum noch erwartete Bestätigung lange zurückliegender Forschung. Sie waren aus diesem Anlass ins Cern eingeladen worden.
Der Belgier François Englert und der Brite Peter Higgs, der eine damals schon achtzig Jahre alt, der andere drei Jahre älter, haben 1964 unabhängig voneinander die theoretischen Grundlagen für die aktuellen Experimente am Cern gelegt – Englert damals zusammen mit seinem Kollegen Robert Brout, der vor zwei Jahren gestorben ist. Nur Higgs allerdings hatte damals auch von einem unbekannten Elementarteilchen geschrieben. Deshalb erhielt es seinen Namen. Die Überlegungen der beiden lagen 1964 in der Luft; ein halbes Jahr später legte eine weitere Gruppe britischer Forscher eine Arbeit zum gleichen Thema vor.
Jubel im Cern
Ein halbes Jahrhundert lang haben Experimentalphysiker nach dem Higgs-Teilchen gesucht. „Das ist ein großer Tag“, sagt Kerstin Borras begeistert am Telefon. Im Hintergrund ist lautstarker Jubel zu hören, denn auf dem Gelände des Cern haben sich rund 300 Mitarbeiter in einem großen Foyer versammelt. Die Wissenschaftlerin leitet eine Forschungsgruppe in der CMS-Kollaboration im Cern, die an der Entdeckung beteiligt war. Ihre wissenschaftliche Heimat ist das Deutsche Elektronensynchrotron (Desy) in Hamburg. Borras hat die beiden Preisträger als sympathische Kollegen kennengelernt und freut sich für sie. „Das ist eine super Anerkennung.“
Mit dem Nobelpreis ehrt das Komitee „die theoretische Entdeckung eines Mechanismus, der zu unserem Verständnis zur Herkunft der Masse subatomarer Teilchen beiträgt und der jüngst durch die Entdeckung des vorhergesagten Elementarteilchens durch die Experimente Atlas und CMS am Large Hadron Collider (LHC) des Cern bestätigt wurde“.
Grundbausteine der Materie
Die Arbeiten der beiden Nobelpreisträger haben entscheidend zu dem Bild beigetragen, das die Physik spätestens seit den siebziger Jahren von der Welt der kleinsten Teilchen hat. Nach diesem sogenannten Standardmodell besteht die Materie aus wenigen Grundbausteinen wie den Elektronen und den Quarks, die von vier Grundkräften zusammengehalten werden. Diese Grundkräfte sind mit sogenannten Austauschteilchen verknüpft, so etwa die elektromagnetische Kraft mit dem Photon, dem Lichtteilchen. Erst die Theorie vom Higgs-Mechanismus machte es möglich, das Standardmodell zu entwickeln, denn erst durch diesen Mechanismus erhalten die Bausteine der Materie ihre Masse, und erst durch ihn ergab sich eine Erklärung, warum die Teilchen unterschiedliche Massen haben.
Nach der Theorie von Englert und Higgs ist die ganze Welt mit einem Feld ausgefüllt, dem Higgs-Feld. Bewegt sich ein Teilchen durch dieses Feld, entsteht eine Wechselwirkung, und diese gibt dem Teilchen Masse – mal mehr, mal weniger. Das Feld selbst kann in Schwingungen geraten, wie eine Meeresoberfläche sich kräuseln kann. Die „Wellen“ oder Verdichtungen in diesen Schwingungen bilden die Higgs-Teilchen. Higgs-Teilchen sind sehr schwer; sie wiegen rund 125-mal so viel wie ein Proton, der Kern eines Wasserstoffatoms. Und sie zerfallen so schnell, dass im Cern nur die charakteristischen Trümmer beobachtet werden konnten.
Keine Erklärung hat das Standardmodell bisher für die sogenannte dunkle Materie, die vier Fünftel aller Materie des Universums ausmacht, aber noch nicht direkt beobachtet worden ist. Neuere Theorien unter den Schlagworten Supersymmetrie und Strings sollen das Standardmodell erweitern. Hermann Nicolai, Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam, sieht in der grandiosen Bestätigung des Standardmodells durch die Entdeckung des Higgs-Teilchens neue Herausforderungen.
So fordert die Supersymmetrie nicht eines, sondern vier Higgs-Teilchen. Kerstin Borras bestätigt aber: das bisher gefundene Higgs passt sehr gut zum Standardmodell. Deshalb, so Nicolai, sind „mit diesem Ergebnis schon eine ganze Menge andere Modelle vom Tisch“. „Die Herausforderung, das alles in einen einheitlichen Rahmen einzupassen, sind größer geworden.“ Für die Preisträger hat er sich nicht nur deshalb gefreut. „Sie haben beide einen wesentlichen Beitrag geleistet.“
Peter Higgs auf Tauchstation
Das Nobelpreiskomitee konnte gestern den 84-jährigen Peter Higgs nicht erreichen, um ihm die frohe Botschaft mitzuteilen. Daher verzögerte sich auch die offizielle Bekanntgabe um eine Stunde. Der stille Wissenschaftler hatte die Vergabe des Physiknobelpreises an ihn wohl geahnt – schließlich war seit Wochen darüber spekuliert worden. So war er offensichtlich für einige Stunden auf Tauchstation gegangen. Was Wissenschaftler, die Higgs persönlich kennen, wiederum nicht sonderlich überrascht hat: „Ich bin ziemlich sicher, dass er von der Vergabe des Preises an ihn weiß – und ich bin ziemlich sicher, dass er glücklich ist“, sagte Rolf-Dieter Heuer, der Chef des Forschungszentrums Cern in Genf, wo im vergangenen Jahr die Existenz des Higgs-Teilchens nachgewiesen wurde.
Es dauerte dann auch nicht allzu lange, bis sich Higgs meldete – zumindest in einer Mitteilung der Universität von Edinburg, wo er emeritierter Professor ist: Er sei überwältigt, diese Auszeichnung zu bekommen. Und natürlich dankte er allen, die ihn unterstützt haben. Aber er fügte auch einen bemerkenswerten Satz an: „Ich hoffe, diese Anerkennung der grundlegenden Wissenschaft wird dazu beitragen, das Bewusstsein für den Wert von Forschung ins Blaue hinein zu stärken.“
Damit spielte er wohl auf seine persönliche theoretische „Entdeckung“ des nach ihm benannten Teilchens an: Als junger Forscher an der Edinburgher Uni sei ihm während einer Wanderung im schottischen Hochland seine revolutionäre „Eingebung“ gekommen, heißt es. Doch seine erste Veröffentlichung dazu wurde im renommierten Fachblatt „Physics Letters“ zunächst nicht abgedruckt. 1964 erschien dann die überarbeitete Version im Konkurrenzblatt „Physical Review Letters“.
„Manchmal ist es nett, recht zu haben“
Kurz zuvor hatte in derselben Fachzeitschrift auch der diesjährige zweite Physiknobelpreisträger, François Englert, zusammen mit dem 2011 verstorbenen Robert Brout seine weitgehend gleichen Erkenntnisse zur Veröffentlichung eingereicht, die sie unabhängig von Higgs gewonnen hatten. Gleichwohl wurde Peter Higgs zum Namensgeber des noch unbekannten Teilchens. Das änderte jedoch nichts an der Bescheidenheit des zweifachen Familienvaters Higgs, der auch nicht damit rechnete, dass dieses Teilchen noch zu seinen Lebzeiten tatsächlich entdeckt werden würde. Doch auf seine Art dürfte er sich sehr darüber gefreut haben: „Manchmal ist es nett, recht zu haben“, meinte er kürzlich in einem Pressegespräch.
Auch Englert hat sich offenkundig eher verhalten gefreut. Bei der eilends von der Brüsseler Freien Universität anberaumten Pressekonferenz lobte der 80-jährige Belgier ausdrücklich die „Spitzenarbeit“ von Higgs. Und er bedauerte, dass sein Mitautor des 1964 veröffentlichten Artikels, Robert Brout, nicht mehr hier sein konnte – „mein Mitarbeiter und Freund meines ganzen Lebens“. Zu Brout war er nach seiner Promotion gegangen. 1961 kam Brout nach Brüssel, wo er 1966 Professor und auch Belgier wurde. Später leiteten die beiden Forscher gemeinsam die Abteilung für Theoretische Physik.
Die Physik hat Englert wohl immer viel Spaß bereitet: „Dass ich mein ganzes Leben mit dem Eindruck verbracht habe, nie gearbeitet zu haben, weil es immer Freude war zu forschen – das hat mich wirklich glücklich gemacht“, ließ er nach Bekanntgabe des Preises verlauten. Glücklich gemacht haben ihn aber wohl auch seine fünf Kinder – und seine Enkel.