Zwei Physiker werden für den Beweis geehrt, dass das bewährte Bild der Teilchenwelt unvollständig ist. Nun haben die Physikern in aller Welt viel Arbeit, denn ihr Standardmodell erklärt manche Eigenschaften des Neutrinos nicht.

Stuttgart - Die königlich-schwedische Akademie der Wissenschaften hat mit ihrer Wahl der Physik-Nobelpreisträger langjährige Erwartungen unter Physikern erfüllt. Die Auszeichnung sei „hochverdient“ und irgendwann erwartet worden, wenn auch nicht ausgerechnet in diesem Jahr, sagt Guido Drexlin, Physiker am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Drexlin empfindet „riesengroße Freude“, denn die beiden Geehrten sind „gute Kollegen, die ich seit zwei Jahrzehnten kenne. Sie sind nicht nur ausgezeichnete Forscher, sondern auch in ihren Teams motivierende, faszinierende Persönlichkeiten.“

 

Die mit umgerechnet 850 000 Euro dotierte Auszeichnung wird am 10. Dezember an zwei Forscher verliehen, die sich auf die Spur des rätselhaftesten und flüchtigsten Elementarteilchens gemacht haben, des Neutrinos. Geehrt werden der Japaner Takaaki Kajita (Jahrgang 1959) von der Universität von Tokio in Kashiwa und der Kanadier Arthur B. McDonald (1943) von der Queen’s University in Kingston, Kanada. Das Nobelkomitee ehrt sie „für ihre Entdeckung der Neutrino-Oszillation, die beweist, dass Neutrinos eine Masse haben“.

Die Entdeckung war für die Physik so sensationell, dass sie derzeit für die Forschung noch hochaktuell ist. Die Arbeiten Guido Drexlins und vieler Kollegen in aller Welt knüpfen direkt an die Arbeiten der beiden Nobelpreisträger an. Was Tajika und McDonald belegt haben, ist sogar sensationeller als das Aufspüren des Higgs-Teilchens 2012 im Riesenbeschleuniger am Cern (Nobelpreis 2013). Denn im Cern wurde der letzte Baustein gefunden, der in der seit Jahrzehnten gefestigten Theorie der Elementarteilchen, dem sogenannten Standardmodell, noch fehlte. Doch Kajita und McDonald hätten nun „den ersten offenkundigen Riss im Standardmodell“ offengelegt, schreibt das Nobelkomitee.

Allgegenwärtig und schwer zu beobachten

Neutrinos sind allgegenwärtig und dennoch nur extrem schwer zu beobachten. Es gibt drei Arten: Elektron-Neutrinos, Myon-Neutrinos und Tau-Neutrinos. Sie entstehen aus atomaren Reaktionen im Wesentlichen auf drei Wegen: bei Zerfallsprozessen in der Sonne, durch kosmische Strahlung, die bei Kollisionen mit Partikeln der Erdatmosphäre Neutrinos freisetzt, und durch Reaktionen in den Tiefen des Weltalls. Allein von der Sonne treffen auf jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche pro Sekunde gut 60 Milliarden Neutrinos. Doch Neutrinos gehen kaum Wechselwirkung mit Materie ein. Sie fliegen sogar durch den Erdball fast so, als wäre da nichts.

Das nutzte Kajita zu seiner Entdeckung von 1998 aus. Mit dem Detektor Super-Kamiokande, einem Behälter mit 50 000 Tonnen Wasser tausend Meter unter der Erde in einer alten Zinkmine, verglich er, wie viele der Myon-Neutrinos, die durch kosmische Strahlung in der Erdatmosphäre entstehen, von oben kamen und wie viele von der anderen Seite des Erdballs. Die Zahlen hätten gleich sein müssen. Das waren sie aber nicht. Von oben kamen mehr. Denen, die den längeren Weg durch den Erdball geflogen waren, musste etwas passiert sein. Da die Zahl der aus allen Himmelsrichtungen registrierten Elektron-Neutrinos mit der Theorie übereinstimmte, gab es nur eine Erklärung: Ein Teil der Myon-Neutrinos hatte sich einer Persönlichkeitsänderung unterzogen. Sie waren zu Tau-Neutrinos geworden. Tau-Neutrinos konnte Kajita nicht nachweisen.

2001 lieferte McDonald sein Ergebnis, gefunden mit dem Sudbury Neutrino-Observatory (SNO), einer Kugel mit tausend Tonnen schwerem Wasser, zwei Kilometer tief unter der Erde in einer Nickelmine in Ontario. Die Atome des schweren Wassers enthalten im Kern nicht nur ein positiv geladenes Proton, wie normale Wasseratome, sondern zusätzlich ein Neutron. Damit lassen sich Neutrinos leichter einfangen.

Identitätenwechsel auf dem Weg zur Erde

Das SNO ist spezialisiert auf Neutrinos, die von der Sonne kommen. Es zählt pauschal alle drei Arten von Neutrinos zusammen, die die Sonne zu uns schickt, zugleich aber getrennt die Elektron-Neutrinos. Da in der Sonne nur Elektron-Neutrinos entstehen, müssten die beiden Zahlen gleich sein. Sie waren es erneut nicht. Zwei Drittel der erwarteten Elektron-Neutrinos blieben aus. Die Summe aller ankommenden Neutrinos aber stimmte. Also lag auch hier der Schluss nahe: Die Elektron-Neutrinos hatten unterwegs eine der anderen Identitäten angenommen.

Wie kann so eine Metamorphose geschehen? Die Antwort des Standardmodells ist klar: Sie kann nicht geschehen. Für die Quantenphysik, die in der Welt des Kleinsten gilt, sind Teilchen und Wellen nur zwei verschiedene Ansichten des Gleichen. Im Wellenbild breiten sich auch Neutrinos aus wie Lichtwellen. Die drei Arten von Neutrinos betrachten Physiker als drei Arten der Überlagerung (Superposition) von Neutrino-Zuständen. Zum Vergleich: wenn sich die drei Lichtfarben Rot, Gelb und Blau in der Sonne überlagern, entsteht ein weißer Lichtstrahl. Und der kommt auch als weißer Lichtstrahl auf der Erde an. Doch wenn sich die drei Neutrino-Zustände zu einem Elektron-, Myon- oder Tau-Neutrino überlagern, dann ändert sich offenbar auf der Reise die Überlagerung. Physiker sprechen von Neutrino-Oszillation: Je nachdem, wo auf dem Weg man den Neutrino-Strahl anschaut, sieht man ein anderes Teilchen. Die Erklärung dafür ist: Neutrinos haben im Unterschied zu Lichtteilchen eine Masse, und die Masse der drei Neutrino-Arten unterscheidet sich minimal. Dann fliegen die Neutrinos nicht mehr alle gleich schnell mit der Geschwindigkeit des Lichts, sondern jede Art in unterschiedlichem Maße langsamer. Dann ändert sich die Farbe des Lichtstrahls periodisch – sie oszilliert.

Seit dieser Erkenntnis haben die Theoretiker der Physik viel zu tun. Denn in ihrem Standardmodell haben Neutrinos keine Masse. Und somit gibt es keine Oszillation und keine Erklärung für die Beobachtungen von Tajika und McDonald. Wie groß die Masse der Neutrinos ist, können die Experimente der beiden Nobelpreisträger übrigens nicht sagen. Einer, der diese Masse genau bestimmen will, ist Guido Drexlin vom KIT. Seine Messungen beginnen im Herbst 2016.