Wer kennt den Nobelpreisträger? Ohne Internet half den Wissenschaftsredakteuren in den 80er Jahren nur der Griff zum Telefon.

Stuttgart - Es gab einmal eine Zeit ohne Internet. Wie schön ruhig und beschaulich das Leben damals doch war. Doch jedes Jahr aufs Neue gab es drei Tage im Alltag eines Wissenschaftsjournalisten, die die Hölle waren: die Vergabe der Nobelpreise Anfang Oktober. Schon am Vorabend war die Nervosität kaum zu ignorieren. Das Gefühl ähnelte dem vor einer wichtigen Prüfung im Studium: das Hirn ist wie leer gefegt und man kann nur hoffen, wenigstens den Hauch einer Ahnung von der Thematik der nobelwürdigen Arbeiten zu haben. Medizin, Physik und Chemie - das komplette Programm würde gefragt sein.

 

Und dann kam der Morgen des Medizin-Nobelpreises und das große Warten: aufgeregte Kollegen, die permanent überflüssige Fragen stellen ("Und, weiß man schon, wer es ist?") und das Nervenkostüm strapazieren. Es galt mit den Kollegen aus dem Feuilleton um den Platz zu feilschen. Weil es damals noch keine tägliche Wissenschaftsseite gab, erschien der Nobelpreistext im Kulturteil und verdrängte damit die eine oder andere wichtige Rezension.

Einzige Möglichkeit sind Nachschlagewerke

Angesichts solcher Zeilenscharmützel wirkten die mitfühlenden Damen im sogenannten Tickerraum wie ein Hort der Ruhe. Hier liefen die Agenturmeldungen ein, die dann in die entsprechenden Ressorts verteilt wurden - einen Bildschirm, auf dem jeder Redakteur die Meldungen elektronisch selbst abrufen kann, gab es noch nicht. Und schließlich lief sie endlich ein, die dringend erwartete Nachricht.

Wie immer eine Enttäuschung: meist bestand sie aus nur einem einzigen Satz. "Prof. XY hat den Nobelpreis für Medizin erhalten für seine Leistung in der Erforschung von XYZ." So war es beispielsweise 1994: "Die beiden US-Forscher Alfred G. Gilman und Martin Rodbell erhalten den Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung des G-Proteins." Punkt. Aus. Mehr gab es nicht, auch nicht in absehbarer Zeit.

Von nun an war man gänzlich auf sich selbst gestellt. Keine Googelei, keine Presseerklärung aus Stockholm, nichts. Als einzige Möglichkeit blieben Nachschlagewerke. Die aber nicht selten die Verzweiflung ins Unermessliche steigen ließen. Zum G-Protein war in einem der fetten Biologie-Standardwälzer zu lesen: "G-Proteine gehören zu den membrangebundenen Proteinen. G-Proteine binden an GTP, einem dem ATP im Aufbau vergleichbaren energiereichen Nucleotid..."

Es bleibt nur der Griff zum Telefon

Irgendwo stand dann noch etwas von Hormonrezeptoren und Botenstoffen, die Begriffe aus dem Grundwortschatz eines Biologen legten immerhin den Schluss nahe, es könnte um Zellkommunikation gehen. Damit war zumindest die Richtung klar. Mehr aber auch nicht.

Die Zeit schreitet fort, um 17 Uhr muss der Artikel fertig sein - ob man die Thematik nun durchdrungen hat oder nicht. In dieser Situation bleibt nur der Griff zum Telefon. Möglichst schnell an der Uni oder an irgendeinem Forschungsinstitut jemanden finden, der klar und kurz in einer Art Crashkurs das preisgekrönte Thema verständlich erklären kann, oder, noch besser, den Nobelpreisträger kennt. Die Telefonate ähnelten sich jedes Jahr: "Kennen Sie Prof. XY? Oder kennen Sie vielleicht jemanden, der ihn kennt?" Mitunter hat man wirklich Glück, schließlich ist die wissenschaftliche Welt gut vernetzt, und man kennt die Koryphäen.

Belohnungssekt nach Redaktionsschluss

Im Jahr 1994 hat die Recherche über tausend Umwege und Dutzende Telefonate geklappt: Vom einen zum nächsten und übernächsten verbunden, findet sich tatsächlich an der Uni Tübingen ein Pharmakologe, der gerade ein Jahr in der Abteilung des Nobelpreisträgers gearbeitet hatte. Damit ist der Artikel gerettet. Die Nachhilfestunde in Sachen Kommunikation zwischen den Zellen mit Hilfe der G-Proteine geht klar. Aber was noch viel besser ist: der Tübinger gerät ins Schwärmen und erzählt, wie in den USA nun gefeiert wird - vom Professor bis zur Putzfrau machen alle mit bei der Riesenparty. Außerdem weiß er noch, was für ein lieber, familiärer Mensch der Wissenschaftler sei, trotz seines Erfolgs bodenständig und einfach geblieben. Doch die Zeit drängt - "vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen" - schließlich muss der Text noch geschrieben werden. Der Belohnungssekt nach Redaktionsschluss ist gerechtfertigt, schließlich ist es mal wieder vollbracht - zumindest bis zum nächsten Jahr.

Bis heute ist die Vergabe der Nobelpreise ein Höhepunkt für die Wissenschaftsredaktion, doch die Strapazen halten sich in Grenzen. Nach wie vor bewegt die Frage, welcher Wissenschaftler ihn warum bekommt und ob es möglicherweise eine oder einer aus dem Land sein könnte.

Die Recherche wird durch das Netz erleichtert

Eines ist heutzutage klar: scheitern wird man nicht. Denn auch das Nobelpreiskomitee hat das Internet entdeckt und bietet eine ausführliche Homepage der Nobelpreisvergabe. Dort läuft eine Stoppuhr, die anzeigt, wie lange es noch dauern wird bis zur Bekanntgabe. Und die Stockholmer haben in Sachen Pressebetreuung dazugelernt. Sehr klar formulierte, teilweise recht launige Pressemitteilungen, Lebensläufe und wissenschaftliche Hintergründe machen das Journalistenleben leichter. Einziger Wermutstropfen: mitunter ist die Homepage dem Ansturm in den ersten Stunden nicht gewachsen, und man kommt partout nicht sofort an die nötigen Informationen.

Die Recherche wird durch das Netz ungemein erleichtert. Die Forscher haben inzwischen meist eigene Internetseiten ihrer Forschungsarbeiten und nicht selten auch eine private. Somit muss man gar niemanden mehr finden, der jemanden kennt, der vielleicht jemanden kennt, der den Nobelpreisträger schon mal gesehen oder gesprochen hat. Die meisten Infos sind online zugänglich: Einen hat man aus der Dusche geholt, dem anderen gratuliert die euphorische Frau via Internet. Da ist zu lesen, warum der Biologe so gerne taucht, der Chemiker Rotwein mag und der Physiker trotz naturwissenschaftlicher Ausrichtung in die Kirche geht. Das kann man alles prima aufschreiben - allerdings machen das nahezu alle Wissenschaftsjournalisten. Und weil sich deshalb die Nobelberichte in den Tageszeitungen ebenso wie in den Online-Ausgaben ähneln, greift man doch immer wieder zum Telefon.

Der magische Anruf

Prozedere: Erst kurz vor der Bekanntgabe werden die Preisträger vom Komitee informiert. An diesen Anruf, auch „magic call“ genannt, werden sich die meisten Wissenschaftler ein Leben lang erinnern. Einem Physik-Nobelpreisträger wurde während eines Fluges vom Kapitän die frohe Botschaft überbracht, während ein Wirtschafts-Nobelpreisträger nicht erreicht werden konnte, weil er samt Gattin beim Shoppen war. Günter Grass saß damals beim Zahnarzt, ein australischer Wissenschaftler im Pub.

Beliebt:
Am häufigsten wird auf der Homepage der Nobelpreisvergabe nach Martin Luther King (1964 Friedens-Nobelpreis), Albert Einstein (1921 Physik) und Marie Curie (1911 Chemie) gesucht.