Männergesangsvereine ziehen heute vermutlich nur noch selten auf, wenn es gilt, Friedrich Schiller zu ehren. Dafür treten in Marbach seit 1999 um den Geburtstag des Dichters am 10. November herum Persönlichkeiten der Zeitgeschichte ans Rednerpult des Deutschen Literaturarchivs, um der Klassikerverehrung einen Halt in der Gegenwart ihres jeweiligen Zuständigkeitsgebiets zu verschaffen. Doch auch hier kommt es nicht alle Tage vor, dass ein Nobelpreisträger das Wort ergreift. Zuletzt war das 2012 der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, der in einer poetologischen Erkundungsfahrt die Schiller’schen Gegensatzpaare von naiver und sentimentalischer Dichtung zusammenführte.
An diesem Sonntag steht der aus Tansania stammende und in London lebende Abdulrazak Gurnah auf dem Podium des bis zum letzten Platz gefüllten Saals. Im letzten Jahr wurde ihm von der Schwedischen Akademie in Stockholm die weltliterarische Nobelkrone aufs Haupt gedrückt. Und um zu ermessen, welche Gegensätze hier zusammenkommen, blickt man vorab am besten gut hundert Jahre zurück. In dieser Zeit spielt Gurnahs im letzten Jahr auf Deutsch erschienener Roman „Nachleben“. Und er wirft Licht auf ein im Unterschied zu Schiller noch äußerst unzureichend bearbeitetes Kapitel des Vergangenheitserbes: die blutige deutsche Kolonialgeschichte in Ostafrika.
Der Roman handelt von einem jungen Einheimischen, der sich für die afrikanische Söldnertruppe der Kolonialmacht, die sogenannten Askari, meldet und dabei erfährt, wie brutale Herrenmenschenmoral mit sentimentaler Dichterverehrung einhergehen können. Der zwischen Gefühl und Kälte irrlichternde deutsche Offizier des Protagonisten stammt aus Marbach und bringt in den Pausen des Mordens seinem Untergebenen Deutsch bei, damit dieser einmal Schillers Werke im Original lesen könne. So kann der schwer Kriegstraumatisierte später mit dem in Kisuaheli übersetzten Gedicht „Geheimnis“ um seine spätere Frau freien.
An diesem Sonntagvormittag kommt man vor allem mit einer anderen Sprache weiter. Gurnah hält seine Rede auf Englisch, der Sprache jener Kolonialmacht, die die Deutschen auf Sansibar, wo der Autor 1948 geboren wurde, beerbt hat, bevor eine Revolution in den 60er Jahren auch deren Herrschaft beendete. Danach wurde der Einfluss sozialistischer Staaten bestimmend. Gurnah erzählt, wie er als junger Mann in einer von der DDR im Land eröffneten Bibliothek zum ersten Mal Schiller begegnete, in einem Band mit goldener Titelprägung, in dem sich das Gedicht fand, das einem 33 Jahre später in „Nachleben“ wiederbegegnet – vermutlich hätte er gute Chancen, ein Exemplar im Deutschen Literaturarchiv aufzutreiben.
Historische Verantwortung
Und er erzählt von seinem Großvater, der wie die Hauptfigur des Romans in Diensten der Deutschen stand. Von ihm erfuhr er, was die 30 Jahre währende Herrschaft von 1888 bis 1918 in Deutsch-Ostafrika angerichtet hat. „Heute lässt sich kaum noch genau einschätzen, wie viele Menschen damals starben, wie viele Lebensgeschichten zerbrochen und ausgelöscht wurden“, sagt Gurnah, „leider ist diese historische Episode gerade in den Ländern, die ihre schlimmsten Gräueltaten verübt haben, nämlich Großbritannien und Deutschland, kaum bekannt.“
Das Leid, das den Menschen in Ostafrika durch europäische Rivalitäten zugefügt worden sei, dürfe nicht verharmlost, nicht vergessen werden. Ein erster Schritt zur Verständigung und Versöhnung sei, die historische Verantwortung für diese Taten anzuerkennen.
In diesem Sinn hat sich auch – ebenfalls auf Englisch – die Kunstministerin des Landes, Petra Olschowski, in ihrem eindringlichen Grußwort geäußert. Und sie erinnerte daran, in wie vielen der aktuellen Konflikte Entscheidungen aus der Vergangenheit und damit verbundene Verletzungen, Spannungen und Bruchlinien fortwirken.
Gurnah skizziert, welche besondere Rolle Deutschland in der historischen Vorstellung Tansanias gespielt hat: „Die Deutschen waren ein Mythos.“ Bevor man nun auf irgendetwas mit Schiller hofft, ergänzt der Literaturnobelpreisträger: „Es war ein Mythos der unerbittlichen Grausamkeit.“ Wie also hängt die Sensibilität für die lyrische Melancholie jenes Gedichts mit dem brutalen Regiment zusammen, das der deutsche Offizier des Romans vollstreckt?
Gurnah kommt auf die rassistische Unterscheidung zwischen üblicher Rechtsordnung und kolonialer Praxis zu sprechen: „Eine Kolonie war immer ein Polizeistaat, durch Dekrete und bei Bedarf durch Gewalt regiert. Was in Deutschland das Gesetz verbot, war in Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika legal. Die deutsche Kolonialpraxis in Afrika trieb dies auf die Spitze.“
Der deutsche Offizier und Schiller-Liebhaber ist zwiegespalten zwischen menschlichen Regungen und einer unmenschlichen Ideologie. Und offensichtlich reicht dieser Zwiespalt nicht aus, um sich aufzulehnen. Man könnte dem auch die implizite Mahnung entnehmen, sich nicht mit kulturellen Sonntagspredigten zu bescheiden. Mit Klassikerverehrung allein ist es nicht getan.