Das Treffen der Nobelpreisträger ist Meinungsbörse und ein Clash der Generationen. Szenen eines Wirtschafts-Kongresses, der von der Touristenstadt aufgesogen wird.

Lindau - Einer, der die ökonomischen Denkmodelle der Zeit vor dem großen Desaster – also vor 2008 – durch den Wolf dreht und versucht, die eigene Zunft aufzurütteln, ist Edmund Phelps. 2006 bekam der inzwischen 82-jährige US-Ökonom den Wirtschaftsnobelpreis für seinen Hinweis, dass es volkswirtschaftlich wichtiger sei, den Konsum pro Kopf zu maximieren als die Produktion pro Kopf. Das funktioniert, wenn alle Löhne konsumiert und die Zinseinkommen gespart werden. Eine optimale Sparquote, schlussfolgerte Phelps bereits im Jahr 1961, ist erreicht, wenn der Zinssatz einer Volkswirtschaft der Wachstumsrate entspricht.

 

Im großen Saal der Inselhalle Lindau redet der langjährige Professor der Columbia University vor ein paar hundert Jungforschern aus aller Welt kein Wort über seine berühmte Formel, er hat ein anderes Thema: die Kritik an der „Standard-Ökonomie“. Sie werde „im Grunde neoklassisch praktiziert“. Alles „Unerkennbare, Instinktive“ und alle „langfristigen Erwartungen“ seien aus den Prognosen und Modellen entfernt worden. Die Wirtschaftswissenschaften seien unfähig zur „Abstraktion“, und könnten sie Phänomene und unerwartete Wendungen nicht schlüssig erklären, sprächen sie eben von „Schocks“ oder „außergewöhnlichen Zeiterscheinungen“.

Mehr Orientierung am Menschen tut not

Für das, was die ökonomischen Denkschulen brauchen, um sich zu erneuern, gebraucht Phelps zwei Begriffe, die sich durch seinen gesamten Vortrag ziehen: „Innovation“ und „Kreativität“. Henry Ford sei einer dieser „inspiring innovators“ gewesen, er habe zeitlebens nicht nur neue Automodelle auf den Markt bringen wollen, sondern sich immer auch gefragt, wonach sich Menschen sehnen, was sie brauchen und was ihnen Mobilität bedeutet. Dieses Talent, vor allem aber der Wille, sich dem Menschen zuzuwenden, seinen Hoffnungen, Nöten und Bedürfnissen, das ist nach Phelps die rettende Medizin für das Fach. Neben Ford fallen ihm andere Vorbilder der Geschichte ein: Cervantes, Shakespeare, Nietzsche, Kierkegaard.

Literaten und Philosophen als Bezugsgestalten für wirtschaftswissenschaftliche Modelle, das hat es bisher nicht gegeben. Aber eine Finanzkrise, die alles hinweggefegt hat, was man über den Zusammenhalt und die Strukturen der globalen Wirtschaft zu wissen glaubte, auch nicht. Einzelne Mahner, die frühzeitig auf den falschen Schein der Finanzsysteme hingewiesen hatten, wurden ignoriert oder verlacht. Mittlerweile erkennen die Ökonomen, dass ihre Wissenschaft sehr wohl auch mit Psychologie zu tun hat, mit Philosophie und kulturellen Besonderheiten.

Joseph Stiglitz tritt als Mahner und Warner auf

Nicht alle Auguren der alten Ordnung geben sich in Lindau zerknirscht. Im Raum „Allgäu“ der Inselhalle beginnt eine Pressekonferenz mit dem großen US-Wissenschaftler Joseph „Joe“ Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger seit 2001. Eigentlich ist das keine Pressekonferenz, jedenfalls keine, in der es um den Kongress geht, sondern wieder ein Seminar, nur halt vor Journalisten. Der silberhaarige 72-Jährige hält sich nicht lange mit Irrtümern der Vergangenheit auf, sondern schlüpft in die Rolle des Warners. Obamas Plan zur Behebung der Banken- und Finanzkrise? Nur „Ersatzkapitalismus“. Die Zukunft der Europäischen Union? Düster, düster. Das einzige erkennbare Rezept der schwächelnden Staaten sei doch der Export. „Aber wohin?“, fragt Stiglitz. „Auf den Mars oder den Mond?“ Tatsache sei, dass überall, ob in den USA oder in Asien, die Importe zurückgingen. „Das Grundproblem ist die Marktnachfrage.“

Läuft Europa Gefahr, auf den abschüssigen Weg Japans in den 90er Jahren zu geraten? „Yes!“ ruft Stiglitz, und es klingt, als feuere er eine Smith & Wesson ab. Er sieht eine „große Depression“ in Europa, vergleichbar nur mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Und was ist mit Russland? Bringen die Sanktionen etwas? Stiglitz bedauert. Ohne weltweite Unterstützung der EU-Maßnahmen würden „universelle Sanktionen“ verpuffen. Der 72-Jährige ruft die Kubakrise ins Gedächtnis. Damals sei auch versucht worden, Castros Regime durch das Kappen möglichst vieler Versorgungswege zu schaden. Gelitten hätten aber nur Millionen Insulaner, die Regierung sei keineswegs gestürzt worden.

Auch Globalisierungsgegner sind nach Lindau gekommen

Der Aufstieg der Ford-Werke, die Kubakrise, der Weltkrieg, der kalte Krieg – für die 450 Jungforscher sind das alles Episoden aus lang vergangener Zeit. Aber die 17 Laureaten, die sich in Lindau versammeln, sind nun mal davon geprägt. Unter ihnen ist keine einzige Frau, in der Schilderung ihrer Lebenserfahrungen ist viel von Schlag und Gegenschlag die Rede, von der Wahl zwischen Blüte oder Verderben, aber wenig von Mitfühlung oder der Bedeutung humanistischer Werte. Wer auf die Podien des Lindauer Treffens guckt, der ahnt: Die Welt der Ökonomen, wie sie bisher war, ist eine Gesellschaft gesetzter Herren, die wenig Übung darin haben, ihre Lehren verteidigen zu müssen.

Gegenüber dem Haupteingang der Inselhalle haben Attac-Aktivisten an einem Stück historischer Stadtmauer große Protestbanner aufgehängt. „You ,nobel’ economic scientists, what is your role in the world financial desaster? Give us an answer!“ (Ihr noblen Wirtschaftswissenschaftler, was ist eure Rolle bei der Finanzkrise?“) steht zu lesen. Oder: „Is ethics in economic science a foreign word?“ („Ist Moral in den Wirtschaftswissenschaften ein Fremdwort?“) Oder, kurz und verletztend: „Shame on you“. („Schämt euch.“)

Frage-und-Antwort-Runden finden exklusiv statt

Mittags im Bewirtungszelt stehen die Top-Ökonomen von morgen ohne Murren in der endlosen Schlange vor dem Kaffeeautomaten. Viele graue Anzüge, adrette Kostüme, gebürstete Schuhe, keine sichtbaren Tatoos, keine Piercings. Für den Dresscode von gestern gibt es offenbar keinen Ersatz, aber: Auffallend viele junge Frauen haben inzwischen das Fach ergriffen. Von einer Minderheit kann wirklich nicht mehr die Rede sein.

Frage-Antwort-Runden zwischen den Jungen und den Alten spielen sich immer nachmittags in kleinen Runden hinter verschlossenen Türen ab, im historischen Ratssaal des Alten Rathauses von Lindau zum Beispiel, oder im Hotel Bayerischer Hof. Journalisten sind dabei nicht zugelassen. Schade eigentlich, man hätte gerne miterlebt, womit Vernon Smith konfrontiert wird. Smith wurde 2002 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Er fordert maximale Freiheit für die Wirtschaft, sogar die Abschaffung jeder Art von Unternehmenssteuer. Reiche, findet Smith, helfen mit ihren Vermögen, die Armut zu bekämpfen, denn ihr Geld – abzüglich natürlich des Eigenverbrauchs – arbeite letztlich für die Gemeinschaft. Smith ist 87 Jahre alt.

Die Touristen kriegen vom Wissenschaftstrubel nichts mit

Auf der Lindauer Insel mit ihren geputzten Altstadtfassaden wimmeln die Touristenscharen. Keineswegs okkupiert der Kongress in diesen Tagen die Stadt; er wird selber aufgesogen vom Gelärme der Hochsaison. In der Maximilianstraße dominieren die Softshelljacken, an der teuren Uferpromenade wärmen auf den Hotelterrassen Loden und Pelz. Einige von denen, die es im Leben geschafft haben, gucken ein wenig missmutig auf den steinernen Löwen, der den Hafen bewacht und die dunklen Wolken, die sich weiter hinten im Bregenzer Trichter gesammelt haben. Wer Adleraugen besitzt, kann die Silhouette der Bregenzer Seebühne erkennen, auf der jeden Abend die Lichter zur „Zauberflöte“ angehen.

Die Verkaufsmaschine auf diesem begüterten Flecken Deutschland rattert ihren eigenen Takt. Seit Wochen sind alle Zimmer ausgebucht, den Karikaturenzeichnern auf der Promenade tun schon mittags die Finger weh. Auch Reiskörner mit Namensgravur gehen gut. Stiglitz und Smith, die Finanzkrise und Attac, Angela Merkel und die Schattenbanken, das alles dringt nicht bis an die Wasserkante vor. Das Freiluftgetränk dieses Sommers heißt Erdbeerbowle.


Geschichte
Das erste Lindauer Nobelpreisträgertreffen ist im Jahr 1951 veranstaltet worden. Die Wirtschaftswissenschaften sind die Disziplin, die zuletzt Berücksichtigung fand. Die Ökonomen kamen erstmals nach der Jahrtausendwende an den Bodensee. Aktuell handelt es sich um die fünfte Auflage für das Fach. Finanziert wird der Kongress in erster Linie über mehrere Dutzend große und kleinere Sponsoren. Dazu zählen Automobilfirmen, Banken, IT-Unternehmen oder Stiftungen.

Rahmenprogramm Ein Kuratorium unter Vorsitz der Gräfin Bettina Bernadotte (von der Inhaberfamilie der Insel Mainau) wacht über die jährlichen Nobelpreisträgertreffen. Ein vergnügliches Rahmenprogramm gehört stets dazu. So gibt es am Freitag Abend den traditionellen bayerischen Abend mit entsprechendem Buffet. Am Samstag, vor Kongressende, steht noch eine gemeinsame Schifffahrt auf die Insel Mainau auf dem Plan.