Wir Stadtkinder lieben unsere Stadt. Aber verdammt nochmal nicht alles. Zum Beispiel die Unfähigkeit vieler Stuttgarter, sich beim Bäcker, im Café oder beim Einkaufen richtig anzustellen. Können wir alles außer Anstehen?

Stuttgart – Seit mehr als einem Jahr leben wir im Kessel unter Pandemiebedingungen. Seit mehr als zwölf Monaten bestimmen Lockdowns und Lockerungen, Alltagsmasken und Abstand sowie Inzidenzwerte und Impfdiskussionen unseren Alltag. Und seit über einem Jahr müssen wir uns mehr oder weniger etwas gedulden, wenn wir irgendwo reinwollen. Es ist ein bisschen wie beim Feiern gehen früher, lange ist es her. Anstehen lautet das Gebot der Stunde, in einer Schlange stehen und warten. Ob vorm Bäcker, Lieblingscafé, Supermarkt oder zum coronakonformen Click and Meet im Laden – wer irgendetwas will, muss sich einreihen. Eigentlich ein einfaches Konzept, an dem viele Menschen in Stuttgart jedoch gnadenlos scheitern.

 

Wir können alles. Außer Anstehen. 

Und so wird der Besuch beim Bäcker ums Eck regelmäßig zum Event. Im negativen Sinne. „Maximal zwei Kunden“ steht in großen Lettern auf einer Tafel vorm Laden geschrieben, die nebenbei noch verkündet, dass es hier die besten Brezeln der Stadt gibt. Ja, eine Pandemie macht auch vor Brezeln keinen Halt. Und so muss man vorm Bäcker anstehen, eine Schlange bilden und warten. Auf den Gehweg vorm Laden wurden sogar, inzwischen recht abgenutzte, Markierungen aufgeklebt, um uns allen das Anstehen zu erleichtern. Doch vor allem zur Rushhour am Morgen, zur Mittagspause und zur Kaffee-und-Kuchen-Zeit bricht an dieser Stelle trotzdem regelmäßig das Chaos aus.

Eine Menschentraube entsteht, zögerlich wird eine Schlange gebildet, in die auch im mich einreihe. Immer wieder kommen Leute dazu, versuchen die Schlange zu umgehen, stellen sich von der anderen Seite an. Es bildet sich eine zweite Schlange. Von links nach rechts und von rechts nach links versuchen nun Leute an Brezeln, Brot und süßen Stückle zu gelangen. Irritierte Blicke von mir und meinen Leidensgenossen in die Runde. „Sie müssen sich schon hier hinten anstellen“, erklärt eine Frau aus der Schlange den Neuankömmlingen, die sich mit einem Augenrollen in unsere ursprüngliche Warteschlange einreihen. Kollektives Kopfschütteln. Ja, wir können alles. Außer Anstehen.

Stellt euch nicht so an!

Auch im Supermarkt hat sich das mit dem Anstehen offensichtlich noch nicht richtig etabliert. Hat man es mal durch die engen Gänge geschafft, herrscht an der Kasse dichtes Gedränge. Während ich selbst um Abstand bemüht bin, kommt die Person hinter mir immer näher. Hätte sie keine Maske auf, könnte ich ihren Atem spüren. Vor mir räumt eine Person derweil unfassbar langsam ihren Einkaufswagen aus und befördert Maultaschen, Obst und Gemüse in Zeitlupe aufs Kassenband. Die Person hinter mir wird jetzt so richtig ungeduldig, kommt näher und näher, als könnte sie so den Vorgang beschleunigen. Spoiler: Kann sie nicht!

Während ich mich ein paar Schritte von der inzwischen stark schnaufenden Person entferne, holt diese die neu gewonnene Distanz direkt wieder auf. Dicht and dicht stehen wir an der Kasse und warten. An den anderen Kassen beobachte ich das gleiche Phänomen. Es könnte doch alles so einfach sein. Stellt euch doch nicht so an!

Zur Normalität bitte hier anstellen 

Ja, Anstehen gehört mittlerweile zum Leben im Kessel dazu. Eine feste Größe, die für viele sehr erklärungsbedürftig zu sein scheint. So beobachtete ich vor einem Stuttgarter Kaufhaus Leitsysteme, Ampeln und Check-In-Schalter, die den Kunden den wohl doch sehr komplizierten Prozess des Anstehens für das durch Corona entstandene Click and Meet vereinfachen sollten. Ein etwas skurriles Bild: Menschen stehen wie bei der Gepäckaufgabe am Flughafen an, in freudiger Erwartung auf den Shopping-Trip. Aber das Konzept schien aufzugehen, die Schlange vorm Laden war einwandfrei.

Vieleicht sollte mein Bäcker auch mit ein paar Absperrbändern arbeiten und eine Ampel installieren, nur so zur Sicherheit. Und irgendwann können wir im Kessel hoffentlich zur Normalität zurückkehren. Wenn wir uns bis dahin anstellen müssen, dann doch bitte richtig!