Für den Deutschen Buchpreis nominiert: Nora Bossongs brillanter Roman „Schutzzone“ wagt sich auf das Gebiet weltpolitischer Zerwürfnisse.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wollte man die Geschichte zusammenfügen, die die Autorin Nora Bossong in ihrem Roman „Schutzzone“ so kunstvoll auseinandergenommen hat, könnte man sie folgendermaßen ordnen: Eine junge Frau, Mira, wird als Kind aus dem zerbrechenden Leben ihrer Eltern in einer Gastfamilie in Sicherheit gebracht. Ihr neuer Vater ist nicht nur für die Zerrüttungen in seinem Freundeskreis zuständig, sondern als hoher Beamter auch für die Konfliktherde der Welt. Später wird Mira diesem Weg folgen. Die in Entzweiung Aufgewachsene macht Karriere bei den Vereinten Nationen, als Schlichterin innerhalb der großen Familie der Völker. Ihre Mission führt sie nach New York, Zypern, Burundi, schließlich in das Genfer UN-Büro. Doch die großen Leitbegriffe Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit, Versöhnung beschreiben nicht einen linearen Fortgang in eine bessere Welt. Und so fragil die politischen Verhältnisse sich zeigen, so zerbrechlich bleiben die Beziehungen im Privaten, eines spiegelt sich im anderen.

 

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Die Menschenrechtskarriere der Ich-Erzählerin führt über Genozide, Bürgerkriege, bewaffnete Konflikte, denen die UN nur als zahnloser Papiertiger gegenübersteht. Und genau deshalb lässt sich dieser Roman auch nicht als bündiger Zusammenhang erzählen, sondern als eine Ansammlung von auseinandergesprengten Fragmenten, die sich auf eine Spanne von 1994 bis 2017 verteilen. Es ist eine Zeit, in die der Völkermord in Ruanda, das Auseinanderbrechen Jugoslawiens fällt, der Irakkrieg, der schwelende Zypernkonflikt, eine Zeit fruchtloser Wahrheitskommissionen und Tribunale. Als Wappentier der Mitarbeiter der stolzen Institution fungiert nicht die Friedenstaube, sondern der Pfau: schön, aber flugunfähig.

Westliche Humanität und koloniale Schuldenlast

Nora Bossong, 1982 geboren, arbeitet als Lyrikerin, Essayistin und Romanautorin an der vordersten Front der Wirklichkeit, sei es, dass sie sich in die zwischen Kommerz und Lust trügerisch schillernden Zonen des „Rotlichts“ wagt oder in „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ die Krise des Kapitalismus unter die Lupe eines Unternehmerromans legt. Dichtung und Recherche grenzen bei ihr auf das engste aneinander. Auch ihrem jüngsten, für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman liegen als Material Gespräche, Notate, Berichte zugrunde, die sie im kunstvollen Periodenbau ihres Schreibens dem Zerfall entgegensetzt, von dem „Schutzzone“ handelt – Stimmen von Kindersoldaten, denen die Gefühle wie Samenleiter entfernt wurden, zynische Warlords, UN-Mitarbeiter und Journalisten als privilegierten Zaungästen der Katastrophen.

Die düstere Prosa der Politik und die melancholische Poesie der Sprache finden zusammen in der Überzeugung, dass nur die Literatur jene Abgründe und Widersprüche ausleuchten kann, die unter Chartas, Vereinbarungen und noch den intimsten Geständnissen der Liebe brodeln. In diesen Abgründen verschwinden die klaren Gegensätze von Täter und Opfer, von weltpolitischer Mission und Privatleben, westlicher Humanität und kolonialer Schuldenlast. In einer Welt, in der sich die Wahrheit verflüchtigt hat, bleibt als Schutzzone das Erzählen. Wie Scheherazade erzählt Mira gegen wohlfeile Illusionen und zynische Menschenverachtung an, um die Frist bis zum nächsten Massaker so weit wie möglich auszudehnen.

Nora Bossong: Schutzzone. Roman. Suhrkamp Verlag. 328 Seiten, 24 Euro.