Das nordafghanische Kundus ist der bedeutsamste Einsatzort der Bundeswehrgeschichte. Eineinhalb Jahre nach dem Abzug der deutschen Soldaten läuft nun eine machtvolle Frühjahrsoffensive der Taliban. Auch deutsche Entwicklungshelfer sind in Gefahr.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Kundus - Die Lage in der Provinz Kundus ist extrem angespannt. Dorf für Dorf nehmen die Taliban seit Beginn der Frühjahrsoffensive am 24. April rund um die Provinzhauptstadt ein. Täglich greifen sie die immer gleichen Checkpoints der Sicherheitskräfte an und verwickeln sie in Gefechte von vielen Stunden. 200 Aufständische, 20 Polizisten und sechs Zivilisten seien seither ums Leben gekommen, zieht der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammad Omar Safi, eine Zwischenbilanz.

 

Obwohl die Sicherheitskräfte den Ansturm bremsen und einen Teil der von den Taliban eroberten Gemeinden wieder befreien konnten, zeigt sich, dass es die Aufständischen auf das Zentrum von Kundus abgesehen haben. Die afghanischen Militärs wehren sich auch vom Flughafen vor der Stadt aus – etwa einen Kilometer vom Feldlager entfernt, das die deutschen Soldaten am 19. Oktober 2013 endgültig verlassen hatten. Eineinhalb Jahre später droht dem bedeutsamsten Einsatzort der Bundeswehrgeschichte der Rückfall in alte Zeiten.

Das öffentliche Leben in Kundus stockt. Nur gut 60 Prozent der Läden ist amtlichen Meldungen zufolge geöffnet, doch die Straßen sind selbst wochentags menschenleer. Draußen in der Provinz zeichnet sich das Desaster noch deutlicher ab. Schlecht ist es um Imam Sahib nördlich von Kundus bestellt. 2000 Aufständische, so der dortige Gouverneur Imamuddin Koraischi, seien dort auf dem Vormarsch. Sie nähern sich der Stadt von allen Seiten.

Die Entwicklungshelfer in Kundus befinden sich im Alarmzustand. An die Deutschen und ihre afghanischen Mitarbeiter in den Nichtregierungsorganisationen erging vor Tagen zunächst bis Sonntag die Weisung, nicht mehr zur Arbeit oder gar über Land zu fahren, sondern zu Hause zu bleiben, wo sie alle 30 Minuten kontaktiert werden – ein ungewohnter Schritt.

Taliban-Gruppe hat GIZ-Mitarbeiter entführt

Für den entführten Mitarbeiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) kommen die Vorsichtsmaßnahmen zu spät. Der Potsdamer Stefan E. wurde am 19. April auf dem Weg von Kundus nach Masar-i-Scharif mit seinem Fahrer aus dem gepanzerten Auto gezerrt, geschlagen und verschleppt. Deutsche Entwicklungshelfer als Anschlagsziel – das ist neu in dieser Region. Was erst nach organisierter Kriminalität und dem Versuch von Lösegelderpressung aussah, erscheint nun lebensbedrohlich für den 37-jährigen Ökonomen, nachdem sich eine lokale Talibangruppe zu der Entführung bekannt hat.

Die Stuttgarter Kinderberg-Leiterin Suzana Lipovac.. Foto: StZ

125 Deutsche und 1600 Einheimische arbeiten für die GIZ in Afghanistan. Neben der GIZ wagen es nicht mehr viele Organisationen, in Kundus präsent zu sein. Ärzte ohne Grenzen etwa betreibt in der Stadt ein unfallchirurgisches Krankenhaus. Die meisten Helfer sind weitergezogen – in den Nordirak etwa. Die Stuttgarter Hilfsorganisation Kinderberg hat ihre großen, vom Auswärtigen Amt geförderten Projekte bis Ende vorigen Jahres abgeschlossen und an den afghanischen Staat übertragen. Es bleiben spendenfinanzierte Projekte wie eine Unterernährtenstation für verarmte Mütter und Kinder sowie eine Maßnahme im Frauengefängnis in Faisabad (Provinz Badakshan). Kinderberg-Chefin Suzana Lipovac war seit dem Bundeswehrabzug nicht mehr im Norden unterwegs. „Man kann in Kundus nur noch mit bewaffnetem Schutz arbeiten, wie ihn die GIZ hat“, sagt sie. Insbesondere über ihre Mitarbeiter hält sie sich täglich auf dem neuesten Stand. Erst vorletzte Woche hätten vermutlich Taliban dem Sohn ihres Fuhrparkleiters dreimal gezielt in die Beine geschossen, während er im Innenhof gespielt hat, schildert sie. Nach mehreren Operationen in Pakistan steht es nicht gut um den Jungen.

Kinderberg würde gern bleiben

Dennoch will sich Kinderberg nach 14 Jahren nicht abwenden, sondern denkt bereits über ein neues vom Entwicklungshilfeministerium (BMZ) finanziertes Engagement nach. „Es ist die Logik des Wahnsinns, dass sonst das passiert, was im Nordirak passiert ist – da sind auch viele Hilfsorganisationen weggegangen“, sagt Lipovac. Selbst in Nordafghanistan zeichnet sich ab, dass die Idee des Islamischen Staates verfängt. Einheimische Mitarbeiter hätten ihr berichtet, dass in Chahar Darreh – der von der Bundeswehr einst mit hohem Einsatz bekämpften Talibanhochburg – „schwarz gekleidete Personen mit IS-Flagge herumlaufen“. Lipovac stellt fest, dass der IS-Erfolg in Irak und Syrien „einige Gelüste“ in Afghanistan geweckt habe und immer mehr Kämpfer über Pakistan und Tadschikistan ins Land kommen. „Es wäre logisch, wenn sie in einem so fragilen Staat Fuß zu fassen versuchen – da finden sie Mitstreiter und wenig Widerstand.“ Der Staat sei vielerorts nicht mehr präsent.

Die deutschen Helfer „werden es nicht durchhalten, wenn die Sicherheitslage noch schlechter wird“, prophezeit Lipovac. Viel werde davon abhängen, was mit dem entführten GIZ-Mitarbeiter passiere. Dessen Schicksal könne die gesamte Strategie der deutschen Ministerien beeinflussen.