Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

So auch jetzt. Die Wagenhallen brauchen ein neues Dach, und der Brandschutz ist auch ein Thema. Fünfeinhalb Millionen Euro hat der Gemeinderat für die Renovierungsarbeiten genehmigt. Das Geld reicht aber nicht, um allen Vorschriften zu genügen. Damit die Location, auf die viele in Stuttgart stolz sind, nicht wie der Fernsehturm plötzlich schließen muss, hat man sich einen Kompromiss überlegt: Wenn vorne in den Wagenhallen eine Veranstaltung stattfindet, dürfen die dahinter liegenden Ateliers nicht genutzt werden. „Eine Frechheit“, sagt David Baur.

 

Verdrängt der Kommerz die Kunst? Fest steht: Das Unternehmen Kulturbetrieb Wagenhallen verdient mit seinen Veranstaltungen gutes Geld und kann meistens so walten, wie es will. Lediglich zwei Tage pro Woche, so sieht es die Vereinbarung vor, müssen veranstaltungsfrei bleiben. Der Schrotthändler Stephan Karle, der die Wagenhallen gepachtet und an den Kulturbetrieb und die Künstler weitervermietet hat, verteidigt die Regelung: „Alle machen Klimmzüge, um die Wagenhallen überhaupt zu erhalten.“ Deshalb müssten jetzt auch alle mit Einschränkungen leben.

Aus Sicht mancher der rund 70 betroffenen Mieter, zumeist freischaffende Künstler, ist das ein fauler Kompromiss. „Der Kulturbetrieb Wagenhallen macht Kohle, die Künstler müssen kuschen“, schimpft David Baur. „Viele wissen doch gar nicht, wie wir arbeiten. Kunst machst du, wenn dich die Muse küsst und nicht, wenn der Wecker klingelt.“

Das Ende der Untergrundkonzerte?

Von allen Waggons am Nordbahnhof hat Moritz Finkbeiner den bekanntesten betrieben. Sein „Konzertwägele“ war vierzehn Jahre lang ständig überfüllt – obwohl oder gerade weil Finkbeiner experimentelle, laute, abseitige Bands nach Stuttgart holte, die sonst nie im Schwabenland gespielt hätten. Er veranstaltete die Konzerte auf eigenes Risiko in seiner eigenen Location.

Finkbeiners Waggon stand in der Wagenreihe, die dem Stuttgart-21-Verladebahnhof Platz machen musste. Als er im September 2013 ein Foto seines ausgeweideten Konzertwaggons bei Facebook veröffentlichte, reichten die Kommentare von „Tschüssi schönster Laden der Welt“ über „Das traurige Ende einer famosen Ära“ bis „Scheiß Stuttgart“.

Wie die Künstler ihre Waggons verteidigt haben

Aurèle Mechler lebt und arbeitet seit elf Jahren am Nordbahnhof, kennt hier jeden und hat schon einmal erfolgreich seinen alternativen und günstigen Arbeits- und Lebensraum verteidigt. 2011, als die Bahn die Künstler zum Auszug aufforderte, organisierte man sich, schrieb Pressemitteilungen, holte den Grünen Rezzo Schlauch zur Unterstützung. Es gab Treffen mit der Bahn, Diskussionen im Rathaus, ein Ersatzstandort wurde gesucht.

Man fand bei der Deutschen Bahn einen wohlgesinnten Verwaltungsmitarbeiter, das half schon mal. Lokalpolitiker kamen zu Besuch, das half noch mehr. Das Thema „kulturelle Zwischennutzung“ wurde diskutiert. Schließlich entstanden in der Marienpassage, im Wilhelmspalais und in der Calwer Passage tatsächlich weitere Orte, die zwischenzeitlich Kunst beheimateten. Fritz Kuhn stellte sich im OB-Wahlkampf auf eine Stuttgarter Bühne und sagte, er setze sich für die Subkultur ein.

Wenn Subkultur nicht mehr Sub- ist

Der Untergrund hatte seinen Schrecken verloren, mehr noch: plötzlich fanden ihn offenbar alle gut. Nur: Die Subkultur, die gemeint war, war nicht das, was die Künstler am Nordbahnhof darunter verstehen. Und wegen der Subkulturtouristen, die am Nordbahnhof vorbeischauten, war „der Flavour weg“, sagt Aurèle Mechler: „Es herrschte hier plötzlich so etwas wie Oktoberfeststimmung.“ Die Zustände waren so schlimm, dass sich die Künstler genötigt sahen, ein Schild aufzuhängen, das Fotografieren und wildes Pinkeln verbot.

Die Schaulustigen sind längst wieder weg. Und einige der Künstler auch: Sie zogen an den Cannstatter Güterbahnhof und haben den umtriebigen Verein Contain’t gegründet, der sich jedoch im Verwaltungsdickicht noch häufiger verheddert als im Gestrüpp des überwucherten Areals. Ein paar Kilometer südlich davon, in der Stuttgarter Innenstadt, kultivieren neue Locations wie die Dresden Bar oder das Super Popular Sanchez das alternative Kunst- und Feiergefühl. Die Stadtverwaltung bemüht sich, auf die Bedürfnisse der Betreiber einzugehen – Betonung auf „bemüht sich“. Regelmäßig knirscht es im Getriebe.

Was wird aus den Wagenhallen?

So auch jetzt. Die Wagenhallen brauchen ein neues Dach, und der Brandschutz ist auch ein Thema. Fünfeinhalb Millionen Euro hat der Gemeinderat für die Renovierungsarbeiten genehmigt. Das Geld reicht aber nicht, um allen Vorschriften zu genügen. Damit die Location, auf die viele in Stuttgart stolz sind, nicht wie der Fernsehturm plötzlich schließen muss, hat man sich einen Kompromiss überlegt: Wenn vorne in den Wagenhallen eine Veranstaltung stattfindet, dürfen die dahinter liegenden Ateliers nicht genutzt werden. „Eine Frechheit“, sagt David Baur.

Verdrängt der Kommerz die Kunst? Fest steht: Das Unternehmen Kulturbetrieb Wagenhallen verdient mit seinen Veranstaltungen gutes Geld und kann meistens so walten, wie es will. Lediglich zwei Tage pro Woche, so sieht es die Vereinbarung vor, müssen veranstaltungsfrei bleiben. Der Schrotthändler Stephan Karle, der die Wagenhallen gepachtet und an den Kulturbetrieb und die Künstler weitervermietet hat, verteidigt die Regelung: „Alle machen Klimmzüge, um die Wagenhallen überhaupt zu erhalten.“ Deshalb müssten jetzt auch alle mit Einschränkungen leben.

Aus Sicht mancher der rund 70 betroffenen Mieter, zumeist freischaffende Künstler, ist das ein fauler Kompromiss. „Der Kulturbetrieb Wagenhallen macht Kohle, die Künstler müssen kuschen“, schimpft David Baur. „Viele wissen doch gar nicht, wie wir arbeiten. Kunst machst du, wenn dich die Muse küsst und nicht, wenn der Wecker klingelt.“

Das Ende der Untergrundkonzerte?

Von allen Waggons am Nordbahnhof hat Moritz Finkbeiner den bekanntesten betrieben. Sein „Konzertwägele“ war vierzehn Jahre lang ständig überfüllt – obwohl oder gerade weil Finkbeiner experimentelle, laute, abseitige Bands nach Stuttgart holte, die sonst nie im Schwabenland gespielt hätten. Er veranstaltete die Konzerte auf eigenes Risiko in seiner eigenen Location.

Finkbeiners Waggon stand in der Wagenreihe, die dem Stuttgart-21-Verladebahnhof Platz machen musste. Als er im September 2013 ein Foto seines ausgeweideten Konzertwaggons bei Facebook veröffentlichte, reichten die Kommentare von „Tschüssi schönster Laden der Welt“ über „Das traurige Ende einer famosen Ära“ bis „Scheiß Stuttgart“.

Jetzt sitzt Moritz Finkbeiner in der Bar Rakete im Theater Rampe, wo der 40-Jährige nun freitags seine Konzerte veranstaltet. Ein hoher Raum, alte Stühle, viel Holz. Das Theaterpublikum steht drauf. Von den Leuten, die Woche für Woche in Finkbeiners Konzertwaggon gekommen sind, stehen nicht alle drauf.

Die Stadt spuckt ihn aus

„Es ist hier natürlich nicht dasselbe wie im Waggon, es gibt keinen solchen Ort mehr in Stuttgart“, sagt Finkbeiner. Ausgerechnet im Schauspiel habe der „Waggon-Spirit“ noch einmal kurz aufgeleuchtet, als er im April für Schorsch Kameruns „Denn sie wissen nicht was wir tun“ eine halblegale Bar im Foyer aufgebaut hatte und Bands auftreten ließ.

Was hat das mit den Wagenhallen zu tun? Moritz Finkbeiner macht zwar seine Konzerte nun in der Bar Rakete, aber die Musiker müssen nach wie vor irgendwo schlafen. Weil das Hotel zu teuer ist, quartiert Finkbeiner sie in seinem Proberaum ein – und der befindet sich in den Wagenhallen. „Künftig muss ich den Bands also sagen: Ja, ihr könnt dort pennen. Aber erst wenn die Disco vorbei ist.“

Und auch Bands wie Die Nerven können den Proberaum womöglich nur noch sporadisch nutzen, um ihren mittlerweile deutschlandweit beachteten Sound zu entwickeln. Wenn sich kein Ersatz findet, sagt Moritz Finkbeiner, werde er Stuttgart verlassen. Die Stadt spucke womöglich nicht nur ihn aus, sondern eine ganze Szene.

Eine Gruppenschau in der Nordbahnhofstraße

Von den Waggons und den Wagenhallen ist es nur ein kurzes Stück Weg über durchlöcherten Asphalt bis in die Nordbahnhofstraße. Da, wo seit Monaten Mietshäuser vom S-21-Bauschutt eingestaubt werden, ist in einem ausgeräumten Laden noch bis Ende Oktober eine Gruppenschau zu sehen: Aurèle Mechler stellt gemeinsam mit anderen Kreativen vom Nordbahnhof aus. Zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hat sich die Gegenwartskunst einquartiert. Collagen sind zu sehen, Objets trouvés, und immer wieder geht es um die Umstände des eigenen Schaffens.

Mechler lässt ein surreales Gemälde von einem der Nordbahnhof-Waggons von der Decke hängen. Selbstreflexiv? „Ja sicher“, sagt der Künstler, „warum auch nicht?“ Selbst in Mexiko sei er mal auf die Szene am Nordbahnhof angesprochen worden, die sei also offenbar etwas Besonderes. Und wenn Künstler die Fragen ihrer Zeit spiegeln sollen, dann seien sie am Nordbahnhof genau richtig. Soll Stuttgart 21 gebaut werden?, hieß jahrelang die wichtigste Frage. Nun lautet sie: Was wird aus den frei werdenden Flächen, wenn der Bahnhof irgendwann unter der Erde ist? Kommen dann die Großinvestoren? Oder lässt man Platz für die Kreativen?

Einfach mal machen? So leicht ist das in Stuttgart nicht

Neben Aufèle Mechler steht Magali Sureau, 37, gebürtige Stuttgarterin, vor zwei Jahren nach langer Zeit aus dem Ausland zurückgekommen. „Eigentlich ist es so selbstverständlich und so simpel, sich einen Ort zu nehmen und ihn zu gestalten“, sagt sie. Zumindest in Lissabon sei das so.

In Stuttgart ist es ein wenig komplizierter. Am Nordbahnhof ließ man die Künstler machen, weil das verwilderte Areal zwischen den ziemlich runtergekommenen Wagenhallen und dem Kleine-Leute-Viertel entlang der Nordbahnhofstraße als Logistikfläche für Stuttgart 21 vorgesehen war. Jetzt geht es mit dem Großprojekt voran. „Das ganze Nordbahnhof-Ding war nur möglich wegen Stuttgart 21, es war klar, dass das irgendwann auch deshalb wieder vorbei sein wird“, sagt Aurèle Mechler. „So etwas wie den Nordbahnhof wird es in Stuttgart nie mehr geben“, sagt Moritz Finkbeiner. Schummrig ist künftig woanders.