Wenn mehr als zehn verletzte Menschen an einem Ort medizinisch versorgt werden müssen, kommt es auf vor allem auf ein gutes Zusammenspiel der unterschiedlichen Helfergruppen an. Dass das klappt, kommt nicht von ungefähr.

Waldenbuch - Drei Schwerstverletzte liegen auf dem regennassen Parkplatz der Unternehmen Haka Kunz und Haka Schloz. Ein 14-jähriges Mädchen ist bewusstlos, hat blaue Lippen und eine tiefe Wunde am Bein. Einem Mann wurde der Unterschenkel samt Fuß vom Bein abgerissen. Die Puppen sehen täuschend echt aus. Aus dem Stumpf des abgetrennten Gliedmaßes sickert eine blutähnliche Flüssigkeit.

 

Junge Menschen der DLRG-Wasserrettung haben die Rolle der leichter Verletzten übernommen. Sie geben vor, zu frieren, sind in Goldfolie gehüllt – wegen des Schocks. Auch um sie wird man sich bald kümmern. Zunächst aber sind die Schwerstverletzten dran. Sie werden der Kategorie Rot zugeordnet. Rot wie Gefahr im Verzug. Höchste Dringlichkeit ist hier geboten. 23 Verletzte – elf davon schwer, sechs mittel und sechs leicht – werden die Helfer Stunden später so versorgt haben, dass sie mit einem Einsatzwagen in eine Klinik gebracht werden können. Zumindest theoretisch.

Wie real ist ein solcher Katastrophenfall?

140 Einsatzkräfte üben an diesem Tag einen Katastrophenfall, der laut DRK-Geschäftsbereichsleiter Guido Wenzel, nur sehr selten eintrifft. Hauptamtliche und ehrenamtliche Helfer verschiedener Ortsgruppen des Deutschen Roten Kreuzes, der Johanniter, der Malteser, die Waldenbucher Feuerwehr, die Bevölkerungsschutzgruppe des Landratsamtes Böblingen, der Rettungsdienst und eine Notarztgruppe spielen durch, was zu tun ist, wenn die Böblinger Leitstelle einen „Massenanfall von Verletzten“ meldet. Das bedeutet, dass mindestens zehn Menschen an einem Ort gleichzeitig medizinische Hilfe brauchen. „Von einem solchen Katastrophenfall sind wir hier im Landkreis Böblingen Gott sei Dank in der Vergangenheit verschont geblieben“, sagt Wenzel. Aber gerade was nicht zur Routine gehört, muss regelmäßig trainiert werden. Eine solche Situation sei beispielsweise vorstellbar, „wenn auf der Autobahn fünf bis sechs Autos ineinander gerast sind“. Dann gibt es meist keine Unterkünfte, in denen die Verletzten versorgt werden können.

An diesem Übungstag steht ein einziges Zelt auf der Straße. Die Erstversorgung der Schwerstverletzten findet am Boden und in den Einsatzfahrzeugen statt, die leichter Verletzten werden später in dem Zelt behandelt. „Hallo, was ist passiert? Wie heißen Sie? Können Sie reden?“, fragt Notarzt Andreas Failenschmid eine junge Frau, die auf einer Trage liegt. Die Mime macht ihren Job gut. Sie zittert und sie schwitzt gleichzeitig. „Das rechte Bein tut weh“, flüstert sie. Als der Arzt auf ihre Hüfte drückt, zuckt sie deutlich zusammen.

Wie arbeiten die Rettungskräfte in einem solchen Notfall zusammen?

„Wir sind alle die 112“, hat Kreisbrandmeister Guido Plischek bei seinem Amtsantritt gesagt. Und dieser Satz steht auch für die Zusammenarbeit der Helfergruppen, erklärt Wenzel. Geprobt wird an diesem Tag der Neuentwurf eines Einsatzkonzept, das den Namen BHP25 mobil hat und zwei Jahre lang vom DRK, dem Landratamt Böblingen und ehrenamtlichen Katastrophenschutzhelfern entwickelt wurde. Unter fast realen Bedingungen soll getestet werden, wie schnell die Rettungskette, die Erstversorgung und der Abtransport funktionieren können. Ganz wichtig dabei: das Zusammenspiel zwischen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfern und zwischen den unterschiedlichen Helfergruppen.

Es geht ruhig und geordnet zu an der Bahnhofstraße. Von Panik oder Übereifer ist rein gar nichts zu spüren. Nach und nach treffen die Einsatzkräfte am simulierten Unfallort ein. „In Echtzeit“, sagt Wenzel. Es wird geschaut, wie lange sie an diesem Tag von ihrer Wache aus gebraucht haben. Jeder Helfer weiß, was er zu tun hat. Wenn das auch teils heißt, am Auto zu warten, bis der Einsatzleiter neue Aufgaben zuteilt.

Die Waldenbucher Feuerwehr greift dem DRK unter die Arme, holt 15 Krankentragen aus dem Materialdepot, das das Land Baden-Württemberg stellt. „Das wäre vor Jahren noch die Aufgabe des DRK gewesen“, sagt Wenzel. Der hauptamtliche Rettungsdienst rückt mit hochmodernen Rolltragen an. Noch lagern darauf verschiedene Taschen und Rucksäcke. Deren Inhalt kann Leben retten: „Wir können Zugänge zu Venen legen, Medikamente verabreichen, ein EKG schreiben, den Sauerstoff im Blut messen, Erbrochenes absaugen...“, erklärt Jasmin Hahn, eine frisch ausgebildete Notfallsanitäterin.

Wie hoch ist die Chance zu überleben für Verletzte bei einer Katastrophe?

„Verletzte haben heute viel höhere Überlebenschancen“, sagt der DRK-Geschäftsbereichsleiter. Und er muss es wissen. Für Guido Wenzel ist der heutige Einsatz die 23. Katastrophenschutzübung in seiner DRK-Laufbahn. Kleidung, Fahrzeuge, Hilfsmittel – viel habe sich im Laufe der Zeit verändert. „Die Herz-Druck-Massage beispielsweise konnte früher nur der hauptamtliche Rettungsdienst“, sagt er.

Auf dem Haka-Parkplatz schneiden die Helfer den Schwerstverletzten die Klamotten vom Leib, damit sie frei arbeiten können. Notarzt Failenschmid erkundigt sich immer wieder über den Zustand der Patienten. Die Puppe mitsamt dem abgetrennten Unterschenkels wird auf eine Rolltrage gepackt. Im Krankenwagen muss der Patient beatmet werden, eine Infusion wird gelegt. Blutähnliches läuft unablässig auf die Straße.

36 Minuten hat es gedauert, bis der Menschen-Dummy transportfähig im Krankenwagen lag. Notarzt Failenschmid bewertet diese Zeit für das Szenario „Massenanfall von Verletzten“ als eine respektable. Ob der Mann im realen Leben überlebt hätte? „Er hätte es knapp schaffen können“, sagt Matthias Mast, Rettungsdienstleiter der Johanniter Unfallhilfe aus Ehningen.