Die Ausweitung der Evakuierungszonen rund um die Kernkraftwerke im Land nach einem Atomunfall stellt die Behörden vor große Herausforderungen. Sie müssen neue Notfallpläne erarbeiten – und für deutlich mehr Menschen sorgen.

Freiburg - Die Reaktorkatastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 hat in Deutschland zu einer Kehrtwende bei der Nutzung der Kernenergie geführt: Der Atomausstieg ist beschlossen, bis 2022 sollen alle deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Acht Jahre vor dem Abschalten müssen die Notfallschutzmaßnahmen für die Bevölkerung an die Auswirkungen eines größten anzunehmenden Unfalls (GAU) der Stufe 7 auf der internationalen Ines-Skala angepasst werden.

 

Ein solcher GAU war bisher im Vertrauen auf die hohe Sicherheit in deutschen Atommeilern nicht berücksichtigt worden. Die Behörden, auch das ist eine Erkenntnis nach Fukushima, waren somit all die Jahre auf die Folgen eines schwerwiegenden Reaktorunfalls nicht vorbereitet. Nach den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission SSK vom Februar dieses Jahres muss das nun in ganz Deutschland nachgeholt werden. Die künftigen Notfallschutzmaßnahmen sollten sich nicht mehr an der „Eintrittswahrscheinlichkeit“ eines GAU orientieren, sondern an den „potenziellen Auswirkungen“. Das Ziel des unabhängigen Beratergremiums des Bundesumweltministeriums: die Bevölkerung möglichst vor freigesetzter Radioaktivität zu bewahren, um „irreversible Erkrankungen, die schwerwiegende Beeinträchtigungen der Lebensqualität nach sich ziehen“, zu vermeiden. Dieses Ziel hat weitreichende Folgen: Die Planungsgebiete für den „externen Notfallschutz“ müssen erweitert werden. Damit steigt die Zahl der von einer Evakuierung betroffenen Menschen deutlich.

Binnen eines Tages müsste fast eine halbe Million Menschen ecakuiert werden

Binnen eines Tages müssten etwa am Standort Philippsburg 477 000 Menschen innerhalb eines 20-Kilometer-Radius in Sicherheit gebracht werden. Bei einer Havarie des Meilers in Neckarwestheim (GKN) liegt nun die Großstadt Heilbronn mit rund 125 000 Einwohnern in der Evakuierungszone, die bis an die Markungsgrenze der Landeshauptstadt Stuttgart reicht und immerhin rund 850 000 Menschen umfasst. Und bei einem Unfall des französischen Atomkraftwerks Fessenheim wären in Südbaden 174 450 Menschen betroffen, inklusive dreier Stadtteile von Freiburg – die Stadt komplett miteinbezogen, wären dies dann mit 382 000 deutlich mehr Menschen und schwierige Sondereinrichtungen wie Alten-und Pflegeheime, Krankenhäuser samt Uni-Klinik.

Im Freiburger Regierungsbezirk gibt es kein deutsches Atomkraftwerk (AKW), allerdings müssen die Badener GAU-Vorsorge betreiben wegen der grenznahen Atomkraftwerke im französischen Fessenheim sowie der beiden Schweizer AKW-Standorte in Beznau und Leibstadt. Die 20-Kilometer-Evakuierungszone rund um den Atommeiler Philippsburg hingegen betrifft auch die Domstadt Speyer mit rund 50 000 Einwohnern im benachbarten Bundesland Rheinland-Pfalz, während das bayerische Kernkraftwerk Gundremmingen Heidenheim in Ostwürttemberg tangiert (Regierungsbezirk Stuttgart) und weiter südlich Langenau im Alb-Donau-Kreis (Regierungsbezirk Tübingen).

Die Regierungspräsidien arbeiten daran, die Vorgaben umzusetzen

„Umgehend“ hätten die für den Katastrophenschutz zuständigen vier Regierungspräsidien im März mit der „planerischen Umsetzung der Vorgaben“ begonnen, heißt es aus dem baden-württembergischen Innenministerium. Die Vorgaben wurden von der SSK definiert. Die „Zentralzone“ rund um ein Atomkraftwerk wurde von zwei auf fünf Kilometer vergrößert. Das gesamte Gebiet sollte binnen sechs Stunden nach der Alarmierung evakuiert sein und es sollten Jodtabletten zur Verfügung stehen. Die neue „Mittelzone“ wurde von zehn auf 20 Kilometer erweitert. Hier sollten die Menschen nach 24 Stunden evakuiert sein, Jodtabletten nach zwölf Stunden zur Verfügung stehen. Die bisherige „Außenzone“ wurde von 25 auf 100 Kilometer deutlich vergrößert, die Maßnahmen umfassen folgende Schritte: Jodblockade vorbereiten, kein Aufenthalt im Freien, Warnung vor dem Verzehr von frisch geernteten Lebensmitteln. Zudem soll die „radiologische Lage“ durch Strahlenmesstrupps ermittelt werden. Tatsächlich kann nun im Katastrophenfall das „gesamte Staatsgebiet“ einbezogen werden, vorgesehen sind eine Jodblockade für Kinder, Jugendliche und Schwangere sowie Maßnahmen nach dem Strahlenschutzgesetz. Bisher betrug die „Fernzone“ lediglich 100 Kilometer.

Für die Atomgegner sind das „planerische Sandkastenspiele“

Tatsächlich aber laufen in den Regierungspräsidien erst die Vorbereitungen für die komplexe Katastrohenschutzplanung: das heißt Grundlagenarbeit. Es werden Daten gesammelt über Einwohner, Sondereinrichtungen, Rettungsdienste, Viehbestände, Sammelstellen, Bus- und Transportkapazitäten, mögliche Fluchtwege und Verkehrslenkung, die Aufnahmegemeinden für die Flüchtenden werden bestimmt, ebenso die Aufnahmekapazitäten für Altenheime und Krankenhäuser – in der 20-Kilometer-Zone um das AKW Neckarwestheim sind das 17 Kliniken mit jeweils rund 100 Betten. Bei den Ausgabestellen von Jodtabletten in der 100-Kilometer-Außenzone rund um Neckarwestheim müssten Gebiete in Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern mitbedacht werden, sagt Winfried Lohmüller, der im Stuttgarter Regierungspräsidium für die Evakuierungsplanung zuständig ist. Vorläufig sind auch die Grenzziehungen für die Evakuierungszonen sowie die Einteilung in Sektoren der mit dem Zirkel gezogenen Gebiete. Diese Grenzen sind so „aber nicht haltbar“, sagt Klemens Ficht, der Vizepräsident des Freiburger Regierungspräsidiums. Eine solche Grenzziehung zerschneide Städte und Gemeinden. „Der Bevölkerung wäre nicht vermittelbar, weshalb die Menschen auf der einen Straßenseite evakuiert würden, die auf der anderen jedoch nicht“, beschreibt Ficht das Dilemma. „Das muss landeseinheitlich geregelt werden.“ Im Südbadischen tendiere man dazu, „eher die ganze Stadt miteinzubeziehen“, erläutert Ficht, auch wenn dies die Evakuierung der Großstadt Freiburg bedeute. Sollte dies landeseinheitlich so beschlossen werden, wäre auch die Großstadt Mannheim mit rund 297 000 Einwohnern komplett zu räumen – der Stadtteil Rheinau liegt innerhalb der 20-Kilometer-Mittelzone. Und was ist dann mit Karlsruhe (299 000 Einwohner) und der Landeshauptstadt Stuttgart (knapp 605 000 Einwohner)? Dort zieht der Zirkel über kleine, allerdings unbewohnte Stadtgebiete die Trennlinie.

Das Aktionsbündnis hält die Radien für unzureichend

Für Herbert Würth vom Aktionsbündnis Castor-Widerstand sind diese Überlegungen nicht anderes als „planerische Sandkastenspiele“. Eine radioaktive Wolke halte sich nicht an Grenzen und Sektoren. Zudem seien die Radien völlig unzureichend, wie ein Ballontest der Atomkraftgegner im vorigen Herbst gezeigt habe. Demnach wäre die Strahlenwolke vom GKN Neckarwestheim bis ins Elsass gezogen. Und für Würth ist klar: „Kein Mensch wartet, bis er evakuiert wird.“ Auf den Straßen werde Chaos herrschen.

Eine Einschätzung, die auch den Behörden Sorge bereitet. Der Freiburger Regierungsvizepräsident Ficht geht davon aus, dass etwa „Zweidrittel der Bevölkerung sich selbst ins Auto setzt und flieht“. Da würden dann nur „großräumige Sperrungen helfen“, sagt der Planer Lohmüller, etwa die Freigabe der A 81 für alle Spuren nur noch in einer Fluchtrichtung – „raus aus dem Schadensgebiet“. Unmittelbar nach den Sommerferien findet im Innenministerium das nächste Treffen mit Vertretern der Regierungspräsidien statt. Einen Zeitplan für die neuen Notfallpläne gibt es allerdings noch nicht.

Kernkraftwerke und die Evakuierungszonen. Klicken Sie auf die Grafik für eine größere Ansicht