Notfallseelsorger im Ahrtal „So etwas habe ich noch nie erlebt“
In dem Katastrophengebiet in Rheinland-Pfalz braucht es nach der Überschwemmung nicht nur zupackende Hände. Was erleben Notfallseelsorger dort derzeit?
In dem Katastrophengebiet in Rheinland-Pfalz braucht es nach der Überschwemmung nicht nur zupackende Hände. Was erleben Notfallseelsorger dort derzeit?
Ludwigsburg - Die Not in den Katastrophengebieten in Nordrhein-Westfahlen und Rheinland-Pfalz ist nach wie vor groß. Der Ludwigsburger Pfarrer Olaf Digel ist seit rund 20 Jahren Notfallseelsorger. Mit 50 weiteren Kollegen aus Baden-Württemberg war er eine Woche im Ahrtal – er erzählt von dramatischen und belastenden Erlebnissen bei Betroffenen und Helfern.
Herr Digel, die Fernsehbilder vom zerstörten Ahrtal haben die Menschen noch in Erinnerung. Aber es ist sicher etwas anderes, wenn man selbst dort war...
Ja, das Ausmaß der Zerstörung und des Leids ist nicht zu fassen. Es gibt immer noch Vermisste, Tote sind teils noch nicht identifiziert, und Menschen erfahren jetzt erst – mehr als drei Wochen später –, dass ihre Angehörigen gestorben sind. Auf der anderen Seite sind auch schon viele Häuser komplett entkernt, in den ausgepumpten Kellern laufen die Bautrockner.
Dann ist die Situation auch für die Helfer und Helferinnen nach wie vor belastend?
Es gibt sowohl bei Helfern, als auch bei Betroffenen einen immensen Bedarf an Trauerbewältigung, auch wenn es für diejenigen, die Menschen verloren haben, sicherlich nochmal etwas anderes ist. Aber mit dem Leid anderer konfrontiert zu sein, kann natürlich auch belastend sein. Wenn die Helfer ein Auto aus dem Wasser ziehen und auf dem Rücksitz noch zwei angeschnallte Kinder sitzen – das ist natürlich eine enorme psychische Belastung.
Haben Sie bei ihrer Arbeit als Notfallseelsorger schon Vergleichbares erlebt?
Unerwartete Todesfälle sind für den einzelnen Menschen immer schlimm. In diesem Ausmaß habe ich das tatsächlich noch nicht gesehen – und ich war beim Amoklauf in Winnenden im Einsatz. In Ahrweiler sind die Todeszahlen noch um ein Vielfaches höher, und dann kommt eben diese sichtbare Zerstörung dazu, ganze Ortsteile sind nicht mehr existent.
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Wie hilft man denn einem Menschen, der seine ganze Existenz und vielleicht auch Angehörige verloren hat?
Meistens geht es darum, einfach da zu sein, das Leid mit auszuhalten und Stabilität zu vermitteln. Und da hilft Schweigen oft mehr als Worte – ein Kollege unter den Notfallseelsorgern hat mal vom „qualifizierten Klappehalten“ gesprochen. Es geht auch darum, dass man den Leuten zu verstehen gibt und anerkennt, was sie Schlimmes erlebt haben. Und manchmal muss man auch Fragen beantworten.
Was wollen die Leute wissen?
Wenn jemand gestorben ist, wollen sie beispielsweise wissen, ob sie den Verstorbenen nochmal sehen können, wie es jetzt weitergeht. Auf so etwas muss man vorbereitet sein, deshalb klären wir das vorher alles mit der Polizei.
Erholen sich Menschen, die solche Katastrophen hautnah erlebt haben irgendwann wieder?
Es gibt eine gute Wahrscheinlichkeit, sich von solchen Dingen wieder zu erholen. Die Seele ist stärker, als man oft denkt. Aber das Erlebte zu verarbeiten, das braucht Zeit.
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Wann treten posttraumatische Belastungsstörungen auf?
Das hängt von individuellen Faktoren ab, je nachdem was dieser Mensch schon erlebt hat und mitbringt. Zeitlich lässt sich so etwas aber frühestens vier Wochen nach so einem Erlebnis diagnostizieren. Und auch da muss man sagen: Es ist in den meisten Fällen behandelbar. Symptome wie Schlaflosigkeit, Übererregtheit, Gefühlstaubheit oder auch erhöhter Suchtdruck gehen oft nach wenigen Tagen oder Wochen wieder weg.
Wie verarbeiten Sie selbst solche Erlebnisse?
Wir Notfallseelsorger haben regelmäßig sogenannte Supervisionstermine. Dabei besprechen wir in der Gruppe mit einem Supervisor die Einsätze und wie es uns damit geht. Das hilft, reden hilft. Nach dem Einsatz im Ahrtal haben wir das auch gemacht. Und generell sollte man gut vorbereitet sein – und wissen, was mit der Seele passiert, wenn man mit solchem Leid konfrontiert war.
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Über den Pfarrberuf zur Notfallseelsorge gekommen
Theologe
Olaf Digel ist hauptberuflich Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde im Ludwigsburger Stadtteil Neckarweihingen. Der 51-Jährige ist verheiratet und arbeitet seit rund 20 Jahren als Notfallseelsorger. Im Kreis Ahrweiler war er Teil einer Gruppe von 50 Notfallseelsorgern aus Baden-Württemberg. Im Kreis Ludwigsburg hat Digel 112 Kollegen, sie waren 2020 auf mehr als 200 Einsätzen.
Anlaufstelle
Menschen, die nach traumatischen Erlebnissen oder dem Tod von Angehörigen Beistand benötigen, bekommen auch telefonisch Hilfe. Die Telefonseelsorge ist unter 0 800 / 111 0 -111 oder -222 zu erreichen. Mehr Infos zur Notfallseelsorge im Kreis Ludwigsburg: www.nfslb.de.