Der Tübinger Gemeinderat beschließt für Neubauten eine Solarpflicht – als bundesweit erste Stadt. Umweltminister Franz Untersteller begrüßt das Vorpreschen in Sachen Klimaschutz.

Tübingen - Als bundesweit erste Kommune hat Tübingen die Solarpflicht für Neubauten eingeführt. „Ich bin stolz darauf, wie Stadt und Rat in die Rolle ökologischer Pioniere geschlüpft sind“, sagt Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) über den Gemeinderatsbeschluss. Fotovoltaik sei in der Stadt die billigste und beste Stromquelle, und es sei eine Pflicht, sie zu nutzen, zum Vorteil aller.

 

Möglich wird die Pflicht zum Solardach durch eine besondere Tübinger Konstruktion bei der Stadtentwicklung. Durch das sogenannte Zwischenerwerbsmodell hat sich die Kommune den Zugriff auf neu zu bebauende Grundstücke gesichert. Erst erwirbt die Stadt als Zwischenhändler die Fläche, dann wird sie weiterveräußert. Im Kaufvertrag ist dann die Pflicht verankert, eine Fotovoltaikanlage zu montieren. Auch bei städtebaulichen Verträgen, wenn etwa ein neues Wohngebiet geplant wird, ist der ökologische Passus künftig enthalten. Die Auflage erstreckt sich auch auf gewerbliche oder öffentliche Gebäude.

Rechtlich riskant ist die Verankerung der Solarpflicht im Bebauungsplan

Grundsätzlich denkbar sei eine Verankerung der Solarpflicht im Bebauungsplan, erläutert Palmer und beruft sich auf das Baugesetzbuch. Noch hält sich Tübingen allerdings damit zurück – wohlwissend, dass dies ein rechtliches Risiko birgt. Einschlägige Urteile zu solch einer Auflage sind bisher nicht gesprochen worden.

Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller begrüßt das Vorpreschen der Universitätsstadt in Sachen Klimaschutz. „Tübingen macht das, was für Landesneubauten schon länger gilt. Wenn es gelingt, dadurch den Anteil an Fotovoltaikstrom zu erhöhen, ist das ein willkommener Beitrag zum Klimaschutz.“ Im Übrigen sei Strom aus eigener Herstellung günstiger als der Strom, der zum Beispiel über die Stadtwerke bezogen werde. „Die Solarpflicht kann also sogar ein finanzieller Vorteil sein“, betont Untersteller.

Abgeschaut hat sich Boris Palmer die Idee vom hessischen Marburg, das bereits 2010 Bauherren in der städtischen Satzung die Nutzung von Sonnenenergie für Warmwasser und Heizung vorgeschrieben hat. Die solare Baupflicht sollte nicht nur für Neubauten greifen, sondern auch beim Austausch der Heizung oder bei größeren Dachsanierungen. Die ambitionierten Pläne wurden allerdings durch eine Reform der Bauordnung in Hessen vereitelt, eine Mehrheit von CDU und FDP im Landtag kippte den Absatz, der Gemeinden Spielräume bei den baulichen Vorschriften einräumte. Die Satzung trat nie in Kraft.

Er habe das Scheitern in Marburg mit Bedauern verfolgt, sagt der Tübinger Oberbürgermeister. Er hat sich erfolgreich auf die Suche nach einem alternativen Modell gemacht. Um Bauherren allerdings nicht über Gebühr zu strapazieren, hat sich Tübingen darauf festgelegt, dass eine Solarstromanlage nur dann installiert werden muss, wenn der Aufwand angemessen und verhältnismäßig ist. Das heißt, im Schatten eines Hochhauses oder wenn ein Haus keinen Strom benötigt, fällt die Pflicht weg. Ebenfalls hinfällig ist sie, sollte bereits eine Solarthermieanlage, also eine Anlage, die aus Sonnenenergie Wärme produziert, vorhanden sein. Für Gebäudeeigentümer, die die Investition scheuen, hat die Stadt sogar ein Pachtmodell im Angebot. Die Stadtwerke planen, finanzieren und warten die Anlage, der Kunde zahlt sie dann über die Stromrechnung ab.

Die Stadt bietet ein Pachtmodell für die Solaranlage an

Getestet hat Tübingen die Solarpflicht auf einem Gelände am ehemaligen Güterbahnhof, dem im Moment größten Baugebiet der Stadt. „Dort wird jedes Haus auf sechs Hektar Fläche eine Solaranlage haben“, verspricht Palmer. Er beziffert die Gesamtleistung der Anlagen auf zwei Megawatt. „Das Experiment hat sich bewährt“, urteilt der Oberbürgermeister, der sich mit der städtischen Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau“ Großes vorgenommen hat. Seit seinem Amtsantritt im Januar 2007 seien die CO2-Emissionen um ein Drittel gesenkt worden, erzählt Palmer. Geplant sei eine Verringerung auf die Hälfte bis zum Jahr 2022. Von den Solardächern erwartet der Oberbürgermeister einen großen Schub. Jährlich werden in der Stadt am Neckar im Schnitt 700 Wohneinheiten errichtet, eine Größenordnung, die für die nächsten zehn Jahre beibehalten werden soll. Für diese Neubauten sind übrigens nicht nur Solarpaneele zwingend. Sie müssen darüber hinaus auch energieeffizient sein – Mindeststandard ist KfW 55.

Glückwünsche an den Tübinger Rathauschef kommen aus Marburg. „Ein kluger Ansatz, um den Klimaschutz voranzubringen“, sagt der dortige Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD), „wir sind gespannt, was für Erfahrungen Tübingen damit macht.“ Spies würde lieber heute als morgen die einst angestrebte Solarsatzung wieder aus der Schublade holen und umsetzen. „Uns hat das Land damals mit Karacho ausgebremst“, ärgert sich Spies, aber im Oktober werde in Hessen neu gewählt. „Mal sehen, was dann kommt“, sagt er mit einem optimistischen Unterton.