Bewegte und bewegende Bilder der Juden-Deportationen– damit hat sich der Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann befasst. Dazu gehören auch seltene Aufnahmen aus Stuttgart.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Bewegte und bewegende Bilder der Juden-Deportationen– damit hat sich der Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann befasst. Dazu gehören auch seltene Aufnahmen aus Stuttgart.

 
Herr Ebbrecht-Hartmann, der heutige 27. Januar ist der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts. Die Bedeutung dieser Erinnerungskultur ist jüngst von dem AfD-Politiker Höcke in Abrede gestellt worden. Was halten Sie dem entgegen?
Björn Höckes Aussagen zeigen, wie notwendig es immer noch ist, sich intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem Holocaust auseinanderzusetzen. Lange Zeit aber wurde dieses Gedenken eher abstrakt aufgefasst. Es ging um die Dimension des Massenmordes, Monumente, Gedenktage. Aber Gedenken hat eine ganz konkrete Seite. Es geht um Menschen und ihre Schicksale. Und die Verbrechen geschahen auch nicht irgendwo im Osten, sondern begannen vor unserer Haustüre. Der Film aus Stuttgart bringt also die Erinnerung in unser Lebensumfeld zurück. Höckes revisionistische und nationalistische Angriffe zielen ins Leere, denn die aktive Erinnerungsarbeit vor Ort, an Schulen und in lokalen Initiativen gibt der scheinbar so weit entfernten Geschichte ein Gesicht.
Am 1. Februar sprechen Sie im Stadtarchiv in Stuttgart über einen Deportationsfilm, den die Nazis im Dezember 1941 in einem Sammellager auf dem Killesberg gemacht haben. Zu welchem Zweck ist das damals geschehen?
Der Film ist acht Minuten lang und ein einzigartiges Filmdokument. Er zeigt Juden aus der Region, die in einem Sammellager auf ihre Deportation warten. Wir sehen ihre Gesichter und lesen ihre Namen auf den Koffern. Aber der Film wurde natürlich nicht zu dem Zweck gemacht, die Erinnerung an diese Menschen zu bewahren. Die ursprüngliche Absicht war wohl, den reibungslosen und effektiven Ablauf der Registrierung und Deportation zu dokumentieren.
Wer hat den Film gedreht?
Der genaue Hintergrund ist bis heute unklar. Wir wissen nicht genau, ob es sich um die Initiative eines lokalen Filmemachers gehandelt hat oder ob der Film, der sich im Zustand eines Rohschnitts befindet, unter Aufsicht der Gestapo erstellt wurde. Überliefert wurde er auf jeden Fall im Rahmen der Stuttgarter Kriegsfilmchronik. Und darin findet sich auch noch ein weiterer – offensichtlich verwandter – Film. Er zeigt Juden in einer Lebensmittelverkaufsstelle. Dieser Film besitzt auch Zwischentitel und ist in einer Schnittversion überliefert, die durchaus antisemitische Tendenzen erkennen lässt. Gedreht hat diesen Film der lokale Dokumentarfilmer Jean Lommen. Das heißt allerdings nicht, dass von ihm auch der Film über das Sammellager auf dem Killesberg stammt.
Was zeigen die Aufnahmen – und was zeigen sie mutmaßlich nicht?
Sie zeigen die Registrierung von Menschen, die Kamera beobachtet Wartende, die auf dem Boden einer Halle hocken. Wir sehen eine Essensausgabe und wie Gepäck auf einen Lastwagen geladen wird. Was wir nicht sehen, sind Grausamkeiten. Erstaunlicherweise sind auch keine Bewacher zu sehen, keine SS und keine Ordnungspolizei, die für den Ablauf der Deportationen verantwortlich war. Nur an zwei Stellen des Films treten Uniformierte ins Blickfeld der Kamera. Offensichtlich versucht der Kameramann durch Zeichen und Schwenken der Kamera dafür zu sorgen, dass sie das Bild wieder verlassen. Diese Fehler weisen darauf hin, dass es wohl beabsichtigt war, den Zwang der Maßnahmen zu verschleiern. Darum wirken die Aufnahmen heute so verstörend „normal“.
Was wurde aus den Menschen, die in dem Film zu sehen sind?
Durch Transportlisten sind uns die Namen einiger Deportierter vom Dezember 1941 bekannt. Lokale Initiativen haben Lebensläufe und Schicksale recherchiert (siehe dazu: http://www.zeichen-der-erinnerung.org/n5.htm). In der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem werden Gedenkblätter für die Ermordeten aufbewahrt. Sie enthüllen auch Schicksale der in den Filmaufnahmen zu sehenden Juden. Ein Name sticht in dem Film besonders hervor. Er steht in weißen Buchstaben auf einem Koffer geschrieben: „Ruth Sara Lax. Transport No. 202“. Sie war erst fünf Jahre alt, als sie nach Riga deportiert wurde, wo sie am 26. März 1942 starb.
Existieren vergleichbare Filmdokumente?
Interessanterweise gibt es auch aus anderen deutschen Städten solche Filmaufnahmen, zum Beispiel aus Hildesheim und Dresden. Bereits vor den Aufnahmen in Stuttgart wurde ein Film von einer Deportation aus Bruchsal vom Oktober 1940 mit dem Titel „Bruchsal judenfrei!“ gedreht. Ob es Zusammenhänge zwischen den Filmprojekten gibt, ist nicht klar. Es könnte sich um eine unabhängige Initiative handeln, aber es könnte auch einen Zusammenhang mit einer angeblichen Anordnung Goebbels geben, Aufnahmen von den Deportationen für eine spätere Verwendung nach Kriegsende zu erstellen. In diesem Zusammenhang entstanden wohl die berüchtigten Propagandaaufnahmen im Warschauer Ghetto. Am bekanntesten sind Deportationsaufnahmen, die 1944 im holländischen Durchgangslager Westerbork gedreht wurden. Sie zeigen einen abfahrenden Deportationszug und wurden 1955 für den Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais verwendet.
Ist noch mit weiteren Filmdokumenten zu rechnen?
Der Film aus Hildesheim wurde durch Zufall im lokalen Stadtarchiv entdeckt. Und mit Zufallsfunden auf Dachböden und in Kellern ist immer zu rechnen. Allerdings gab es 1941 und 1942 natürlich noch nicht so viele private Kamerabesitzer wie heute. Heute werden Gräueltaten, wie in Syrien, sofort mit Handykameras gefilmt und gehen mithilfe der sozialen Netzwerke um die Welt.
Das Haus der Geschichte zeigt einen Ausschnitt in seiner Dauerausstellung. Wie sollte man mit dem vorhandenen Filmmaterial umgehen?
Es gibt mehrere Museen, die Auszüge aus dem Stuttgarter Film zeigen, zum Beispiel die Ausstellung in der Wannsee-Villa oder in Yad Vashem. Es ist vor allem wichtig, die Filmaufnahmen mit anderen Dokumenten – vor allem den Aussagen von Opfern und Überlebenden – zusammenzubringen. Nur so entsteht eine Form kritischer Montage, die uns Aufschluss über die historische Situation geben und Täterblick durchbrechen kann, der in den Aufnahmen dominant ist.