Exklusiv Wissenschaftler um den Suttgarter Zeithistoriker Wolfram Pyta untersuchen in einem von der Landesregierung angestoßenen Projekt die Rolle der Landesverwaltung im NS-Staat. Hitler produzierte nach der Machterlangung ein Ämterchaos, doch das System – so Pyta – erwies sich als erschreckend effizient.

Stuttgart - Die Vergangenheit des Auswärtigen Amts und anderer Bundesministerien hat bereits das Interesse der Forschung gefunden. Nun beschäftigt sich eine Historikerkommission mit den Landesministerien von Baden und Württemberg im NS-Staat. Wolfram Pyta, Professor an der Universität Stuttgart, gehört zu den Projektleitern. Ein Gespräch über Bürokratie und Diktatur.
Herr Professor Pyta, welche Bedeutung hat die Beamtenschaft für einen modernen Staat? Nach Organisationsfähigkeit und Leistungskraft muss man ja auch für NS-Deutschland annehmen, dass dies ein moderner, dem Prinzip der Zweckrationalität verpflichteter Staat war.
Ja, aber darin erschöpft sich Hitlers Herrschaft nicht. Wer Hitler nur mit einem Amtstitel versieht, wer ihn nur als Reichskanzler oder – nach dem Tod Paul von Hindenburgs – als Reichskanzler und Reichspräsident versteht, bildet ihn in der Kategorie rationaler Herrschaft ab und verfehlt seinen charismatischen Anspruch. Richtig ist aber ebenso: Auch Hitler bedurfte jener von Max Weber beschriebenen bürokratisch-rationalen Herrschaft, die zur Sicherung der staatlichen Leistungen unverzichtbar ist. Er brauchte die Beamten. Dazu kamen die Sonderbehörden, die aus dem Boden sprossen wie Pilze nach einem warmen Regen im Spätsommer.
War die Beamtenschaft integraler Bestandteil des Verbrechenssystems?
Nicht bei den großen Verbrechen. Für die Euthanasie wurde eine Sonderorganisation geschaffen, die der Kanzlei des Führers, die nicht identisch ist mit der Reichskanzlei, unterstand. Die Ermächtigung zur Tötung von behinderten Menschen – am Ende der so genannten T-4-Aktion waren es mehr als 70 000 – erteilte Hitler auf seinem privaten Briefbogen; es gab keinen Erlass, der formalen Kriterien Genüge getan hätte, schon gar nicht gab es eine Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt.
Der sozialdemokratische Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel kennzeichnete bereits im Exil das NS-Regime als „Doppelstaat“, in dem einerseits die staatlichen Behörden ihrer normengeleiteten Arbeit nachgehen, parallel der „Maßnahmenstaat“ den ideologiegeleiteten Terror entfacht.
Bei dieser Beschreibung ist Vorsicht angebracht: Es handelte sich nicht um völlig getrennte Sphären, die nichts miteinander zu tun gehabt hätten. Der Normen- und der Maßnahmenstaat griffen ineinander. Die Sonderbehörden und Sonderorganisationen waren in der Destruktion höchst effizient, weil dort Personen agierten, die hohe Mobilität und Flexibilität zeigten. Auf der anderen Seite haben wir die klassische Bürokratie, in der es um Amtstitel ging und Laufbahnbeamtentum. Da gab es auch eine vom Regime wenig angekränkelte Alltagswirklichkeit. Aber beide Seiten waren miteinander verbunden. Um ein Beispiel zu nennen: Die Vernichtung der bürgerlichen Existenz der jüdischen Deutschen war auch eine Vernichtung ihrer finanziellen Existenz. Die Finanzbehörden waren daran immer beteiligt. Und diese Behörden zählten zum Normenstaat, nicht zum Maßnahmenstaat.
Wie sind die Sonderbehörden zu verstehen?
Das waren Sonderstäbe, die Hitler, der kein Verhältnis zu Institutionen hatte, ad personam einrichtete und mit Sondervollmachten ausstattete, meistens so, dass es überlappende Kompetenzen gab. Hermann Göring wurde zu seinen vielen anderen Kompetenzen auch noch zum Beauftragten für den Vierjahresplan ernannt, der Wirtschaft und Wehrmacht kriegswirtschaftlich auf einen Krieg vorbereiten sollte – ein typischer Sonderauftrag Hitlers. Gleichzeitig ist Hjalmar Schacht Wirtschaftsminister und Walther Darré hat mit dem Landwirtschaftsressort auch ein für die kriegswirtschaftliche Vorbereitung wichtiges Ministerium inne – drei hohe Amtsträger, die sich ständig ins Gehege kamen. Und das galt für viele andere Bereiche auch.
Das NS-Regime wurde, zum Beispiel von Hans Mommsen, als polykratisches, wenn nicht anarchisches System beschrieben – mit zahlreichen, sich befehdenden Machtzentren, die sich gegenseitig selbst lähmten.
Das Gegenteil war der Fall. Das System funktionierte erschreckend gut. Ein ideologisches Kernziel wie die Vernichtung aller Juden im Einflussbereich des Deutschen Reiches wurde zu 80 bis 90 Prozent erreicht. Das System führte, da hat Mommsen Recht, zu einer „kumulativen Radikalisierung“. Es gab systemische Gründe, dem Führer entgegenzuarbeiten. Wir wissen, dass kein Führerbefehl zur Endlösung existierte, aber jeder wusste, dies ist das ideologische Kernziel Hitlers. Und so überbot man sich mit Initiativen, die jeweils neue Maßstäbe der Vernichtung setzten.