NS-Vergangenheit Der Landtag arbeitet sein braunes Erbe auf
Der baden-württembergische Landtag lässt die NS-Vergangenheit seiner früheren Mitglieder ausleuchten. Erste Ergebnisse liegen bereits vor.
Der baden-württembergische Landtag lässt die NS-Vergangenheit seiner früheren Mitglieder ausleuchten. Erste Ergebnisse liegen bereits vor.
In seinen Lebenserinnerungen notierte der Sozialdemokrat Wilhelm Keil nach Ende des Zweiten Weltkriegs: „Nun hat es ein Geschick, von dem ich nicht weiß, ob ich es ein gütiges nennen soll, gefügt, dass ich das tausendjährige Reich überlebt habe.“ Dass Keil die Diktatur - wenn auch von den Nazis geächtet – heil überstand, war tatsächlich alles andere als selbstverständlich für einen prominenten SPD-Politiker, der viele Jahre im Reichstag wie auch im württembergischen Landtag Politik gemacht hatte. Das Konzentrationslager war ihm anders als vielen seiner Freude erspart geblieben. Weshalb, das blieb ihm rätselhaft. „Doch welchen Gründen immer ich es zuzuschreiben hatte, dass ich meine körperliche Freiheit behielt, jedenfalls war ich zufrieden und trug leicht an diesem ‚Makel‘.“
Nach Kriegsende fand der SPD-Veteran erneut Verwendung. Von 1947 bis 1952 präsidierte er dem Landtag von Württemberg-Baden. In Württemberg-Hohenzollern und in Südbaden erfüllten Vertreter der neu gegründeten CDU diese Aufgabe: Karl Gengler und Karl Person. Alle drei waren als Exponenten der Weimarer Republik den Nazis unwillkommen gewesen; sie fanden sich ins Abseits gedrängt. Nach der totalen Niederlage erinnerte man sich ihrer wieder, den Siegermächten galten sie als Repräsentanten eines besseren Deutschlands; die vielen Ex-Nazis und NS-Mitläufer wiederum konnten sich hinter ihrem Rücken verstecken und auf bessere Zeiten warten. Nach Gründung der Bundesrepublik und dem allmählichen Rückzug der Siegermächte – sie hoben 1955 das Besatzungsstatut auf – krochen die ehemaligen Nazis als frisch getaufte Demokraten aus ihren Löchern; meist ohne Reue im Herzen und den Mund voller Ausreden.
Wie das geschehen konnte und in welchem Umfang, das erkundet gegenwärtig die Landeszentrale für politische Bildung im Auftrag des Landtags. Einen wesentlichen Anstoß dazu haben die früheren SPD-Landtagsabgeordneten Birgit Kipfer und Alfred Geisel im Namen der überparteilichen Landesarbeitsgemeinschaft „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ gegeben. Ein Gedenkbuch für die demokratischen Politiker des Südwestens, die von den Nazis eingesperrt, gedemütigt, gefoltert und auch getötet wurden, liegt in den Katakomben des Landtagsgebäudes bereits aus. Nun wird nach dem Vorbild anderer Bundesländer erforscht, wie stark das Parlament in den Nachkriegsjahrzehnten von ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt war – wobei für ein Urteil nicht immer die Parteimitgliedschaft ausschlaggebend sein kann. Entscheid ist die Bereitschaft zur Anpassung und zum Mittun im NS-Staat. Für die Forschung tut sich ein weites Feld auf. Es lässt sich vermessen, welche Beziehungen, Verbindungen und Seilschaften die Ex-Nazis für ihr Fortkommen im veränderten, demokratischen Umfeld nutzten. Ein erstes Forschungsgutachten liegt vor. Es widmet sich den Parlamentspräsidenten sowie den Kunstschaffenden, die für die Ausstattung des Landtagsgebäudes – Kunstprogramm wäre zu viel gesagt – Sorge trugen. Erarbeitet wurde das Gutachten von Leonie Beiersdorf von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe sowie Frank Engehausen von der Universität Heidelberg. Reinhold Weber betreut bei der Landeszentrale für politische Bildung das Projekt.
Am 25. April 1952 wurde das neue Bundesland Baden-Württemberg aus der Taufe gehoben. Von den ersten vier Präsidenten des Landtags gehörten drei der NSDAP an: Carl Neinhaus, Franz Gurk und Camill Wurz. Erich Ganzenmüller, fanden die Forscher heraus, hatte die Parteimitgliedschaft zumindest beantragt. Innerhalb dieser Gruppe „unterscheiden sich die NS-Belastungen signifikant“, heißt es in dem 130 Seiten starken Gutachten. Neinhaus, Landtagspräsident von 1952 bis 1960, gibt in der NS-Diktatur das Bild eines hemmungslosen Opportunisten ab. 1929 als Parteiloser zum Oberbürgermeister von Heidelberg gewählt, konnte er sich nach der NS-Machtübernahme als einziger Oberbürgermeister in Baden im Amt halten – bis 1945; dies in einer Hochburg des Nationalsozialismus, wie die Forscher schreiben. Kaum hatten die Nazis das Sagen, war Neinhaus Parteimitglied. Er verteidigte sich später mit dem gängigen wie wohlfeilen Argument, er habe Schlimmeres verhindern wollen. Er behauptete, auf Drängen der Bürgerschaft, also ganz uneigennützig im Amt geblieben zu sein. Die Amerikaner setzten ihn nach ihrem Einmarsch erst einmal zwei Wochen ein. Doch, oh Wunder, in zwei Spruchkammerverfahren (in deutscher Regie) wurde er erst als „Mitläufer“, dann als „entlastet“ beurteilt. 2022 erkannte ihm die Stadt Heidelberg das Ehrengrab auf dem Bergfriedhof ab.
Anders als Neinhaus, der sich proaktiv an das NS-Regime angebiedert habe, beurteilen die Forscher die Verstrickung der nächsten drei Landtagspräsidenten als eher defensiv, auf die Absicherung der eigenen Position gerichtet. Für den 1905 in Offenburg geborenen Amtsgerichtsrat Camill Wurz lässt sich indes eine eindeutige Gegnerschaft zu Demokratie und Republik konstatieren. Die Forscher entdeckten seinen Namen auf einer Liste von 21 Personen, die im September 1924 die Offenburger Ortsgruppe der „nationalsozialistischen Freiheitsbewegung“ gründeten – eine Ersatzorganisation der NSDAP während des Parteiverbots nach dem Hitlerputsch 1923. Mehr noch: 1924 zählte Wurz zum „Bund Wiking“, einem von Angehörigen der verbotenen „Organisation Consul“ gegründeten paramilitärischen Kampfverband gegen die Weimarer Republik. Von der „Organisation Consul“ war die Ermordung des Reichsfinanzministers Matthias Erzberger 1921 im Schwarzwald und des Reichsaußenministers Walter Rathenau 1922 in Berlin ausgegangen. Ein Drahtzieher des Erzberger-Mordes, Manfred von Killinger, wurde 1922 vor dem Schwurgericht Offenburg angeklagt, am Ende aber – fälschlicherweise – freigesprochen. Camill Wurz erhielt 1965 das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Weitere Ehrungen folgten.
Im Foyer des Landtags findet sich eine Büste des Zentrum-Politikers Eugen Bolz, von 1928 bis 1933 Präsident Württembergs. Im Januar 1945 wurde er von den Nazis in Berlin-Plötzensee enthauptet, weil er dem Widerstandskreis um Carl Goerdeler angehört hatte. Bolz hatte in Weimarer Zeit lange die Sozialdemokraten bekämpft und die NSDAP unterschätzt, dann aber eine antitotalitäre Haltung eingenommen. Die Büste im Landtag ist ein Werk des Bildhauers Fritz von Graevenitz. Seit 1938 Direktor der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste, war er – obwohl nicht Parteimitglied – eng mit dem NS-Kunstbetrieb verbunden. Er diente sich bei Hitler an, erhielt Aufträge von Nazi-Größen wie Hermann Göring (für dessen Landsitz „Carinhall“ in der Schorfheide) und war mehrfach auf der Nazischau der „Großen deutschen Kunstausstellung“ vertreten. 1944 setzten ihn Hitler und sein Kulturkrieger Goebbels auf ihre Liste der „Gottbegnadeten“, die 1041 Namen umfasste.
Ähnlich verhält es sich mit der Büste für den Sozialdemokraten Keil, geschaffen von Jakob Wilhelm Fehrle aus Schwäbisch Gmünd. Zu dessen Werken zählt eine große Porträt-Büste Adolf Hitlers, die im Festsaal der Neuen Aula der Universität Tübingen stand, 1945 aber verschwand. Auch das Schlageter-Ehrenmal aus dem Jahr 1934 im Innenhof des Rathauses Konstanz ist zu nennen. Schlageter wurde von den Nazis als nationaler Märtyrer gefeiert, 1945 fiel das Denkmal der Zerstörung anheim. Walter Brudi, der Schöpfer des Großen Landeswappens, das über dem Präsidentenpult des Plenarsaals hängt, war ab 1929 NSDAP-Mitglied.
Anders ist wohl Otto Herbert Hajek zu bewerten, der im Landtagsgebäude mit dem Triptychon „Paraphrasen zu den Nationalfarben“ vertreten ist. Über Hajek fanden die Forscher heraus, dass er beginnend mit Weihnachten 1944 Dienst bei der Waffen-SS leistete. Hajek war damals 17 Jahre alt, die Parallele zum Schriftsteller Günter Grass drängt sich auf. In der Bundesrepublik avancierte Hajek zu einem wichtigen Vertreter der Nachkriegsmoderne.
Ein wissenschaftlicher Beirat für das Projekt hat Vorschläge erarbeitet, welche Konsequenzen der Landtag aus den bisherigen Forschungsergebnissen ziehen kann. So schlägt er vor, im Bürger- und Medienzentrum des Landtags einen Lernort zur Demokratiegeschichte des Südwestens einzurichten – unter Beiziehung und Kommentierung der vorhandenen Büsten.