Mit 44 Holzskulpturen ist Robert Koenig nach Nürtingen gekommen. Das Odyssey-Kunstprojekt, das von Flucht und Vertreibung handelt, hat in der Stadt für reichlich Aufsehen gesorgt. Der Brite hat eine neue Figur geschaffen, die das Schicksal der Sinti widerspiegelt.

Wenige Tage vor seiner Heimreise zieht Robert Koenig die erste Bilanz. Sein Projekt Odyssey hat Nürtingen mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Dabei hat der Künstler selbst dazugelernt. Das Schicksal des Sinto-Jungen Anton Köhler hat ihn aufgewühlt.
Herr Koenig, Sie müssten ziemlich verärgert sein oder wenigstens enttäuscht.
Wegen was?
Eine Ihrer Skulpturen wurde von Unbekannten aus der Verankerung gerissen, eine andere über eine Mauer auf die Straße geworfen.
Was diese Akte von Vandalismus betrifft, bin ich sehr philosophisch. Wenn man wie bei Odyssey Figuren im öffentlichen Raum platziert, dann bedeutet dies eine Konfrontation und für manche eben auch eine Provokation. Die Werke sind immer anfällig, wenn sie jemand beschädigen will. Ich mache mir deswegen nicht zu viele Gedanken. Meine Aufgabe sehe ich darin sicherzustellen, dass Odyssey auch künftig seine Botschaft transportiert. Die beschädigten Figuren werde ich reparieren. Ich möchte lieber an die positiven Effekte denken, die das Projekt hier in Nürtingen hat.
Ist so etwas das erste Mal passiert?
In den bisher 18 Jahren seiner Reise war Odyssey auf den Straßenecken in vielen Ländern. Die erste Figur wurde, glaube ich, am Trafalgar Square in London beschädigt. Eine Figur wurde in Weingarten im Juni oder Juli umgestoßen. Drei Mal gab es Probleme hier in Nürtingen. Aber fünf Vorfälle in 18 Jahren sind nicht so schlimm. Ich kann nicht enttäuscht sein.
Wer war Anton Köhler?
Auf Anton Köhler bin ich aufmerksam geworden durch die Nürtinger Gedenkinitiative. Er war ein Sinto-Junge aus Nürtingen. Als er zwölf Jahre alt war, wurde er zusammen mit seinen Geschwistern nach Mulfingen in die St.-Josefs-Pflege gebracht. Von dort aus kam er nach Auschwitz, wo alle Geschwister, bis auf die beiden ältesten, ermordet wurden. Anton wurde nicht einmal 13 Jahre alt.
Die Figur Nummer 46, die in Nürtingen bleibt, stellt diesen Anton Köhler dar. Wieso haben Sie ihn ausgewählt?
Ich wusste bisher einiges über Roma, aber nicht viel über Sinti. Immer wenn ich mit Odyssey unterwegs bin, ist dies eine lehrreiche Erfahrung – über Geschichte, über das Leben, über Menschen. Ich habe hier Angehörige der Sinti getroffen und möchte mit einem von ihnen einen kurzen Film machen. Die Figur soll Nürtingen an einen Teil seiner Geschichte erinnern. Anton Köhler ist als einer von vielen Menschen ein Teil dieser Geschichte. Er steht stellvertretend für die Sinti – nicht nur in Nürtingen –, die sein Schicksal unter dem Nationalsozialismus geteilt haben. Anton Köhler ist eine Symbolfigur, die an all die anderen erinnert, die bisher nur abstrakte Namen auf irgendwelchen Listen sind.
Welchen Einfluss, glauben Sie, wird die Figur auf Nürtingen haben?
Sie hat schon einen Einfluss, denke ich. Es ist eine Sache, über jemanden wie Anton zu lesen, der wie viele Millionen anderer Menschen ein dramatisches Ende hatte. Eine andere Sache ist es aber, glaube ich, eine Skulptur zu haben, eine visuelle Erinnerung. Die Skulptur kann auf vielfache Weise ihren Zweck erfüllen. Sie wird alle sechs Monate von einer Schule zur anderen wechseln. Das gibt jungen Menschen die Chance, einen Blick auf die weithin unbekannte Geschichte einer Ethnie zu werfen. Nicht einmal Sinti selbst sprechen ja offen über ihre Vergangenheit, weil sie das Gefühl haben, sich verstecken zu müssen. Es geht darum, dass Minderheiten sichtbar werden, und dazu will Odyssey unter anderem einen Beitrag leisten.
Was wird Ihnen von Nürtingen am meisten in Erinnerung bleiben?
Als ich hierher kam, war ich mit meiner Ausstellung sehr sichtbar. Während ich gearbeitet habe, am Schlagplatz der Freien Kunstakademie und an anderen Orten, kamen Leute, sprachen mit mir und haben mir ihre ganz persönlichen Geschichten erzählt. Im Moment kann ich das alles noch gar nicht einordnen. Ich muss erst einmal Abstand gewinnen und über alles nachdenken.
Sie hatten während Ihres Aufenthalts lebhaften Kontakt zu Einheimischen. Was waren das für Begegnungen?
.An einem Tag habe ich eine Frau kennengelernt, die aus Polen stammt und die eine ganz ähnliche Familiengeschichte hat wie ich, deren Mutter auch als Zwangsarbeiterin hier in Deutschland war. Aber ich sprach mit so vielen anderen Menschen über ihre persönlichen Odysseen, die ihre Heimat verlassen mussten mit all den traumatischen Folgen, Deutsche, die am Ende des Zweiten Weltkrieg flüchten mussten. Die Nationalität ist dabei zweitrangig. All diese Menschen eint die Erfahrung der Entwurzelung.
Die nächste Station für Odyssey soll Speyer sein. Warum gerade diese Stadt?
Speyer ist für mich der wichtigste Ort in Deutschland, weil meine Mutter während des Krieges dorthin in ein Arbeitslager gebracht wurde. Dort hat sie ihre traumatischen Erlebnisse gehabt.
Sie planen, dass Auschwitz irgendwann das Ziel ihres Kunstprojekts ist.
Odyssey ist nicht nur Auschwitz. Odyssey handelt von den Traumata der Vergangenheit, aber auch von den aktuellen Dramen. Denken Sie nur an die Flüchtlinge aus Syrien. In Weingarten steht eine Statue von einem afrikanischen Flüchtling. Aber Auschwitz ist natürlich besonders. Ich muss meine Figuren dorthin bringen. Eine davon ist Lilo Gollowitsch, eine Leutkircher Jüdin, die 1942 als 16-Jährige nach Auschwitz gebracht wurde. So wie mehr als eine Million anderer Menschen wurde auch sie in dem Vernichtungslager ermordet. Auschwitz ist das Sinnbild des Grauens, und Lilo und Anton erinnern uns daran. Dafür arbeite und lebe ich als Künstler.