Das Interesse an den Workshops zur Nürtinger Stadtentwicklung bleibt hinter den Erwartungen zurück. Die Fraktionen Nürtinger Liste/Grüne und CDU finden dafür unterschiedliche Erklärungen.

Nürtingen - Die Fraktionsvorsitzenden Dieter Braunmüller (Nürtinger Liste/Grüne) und Thaddäus Kunzmann (CDU) sind politisch häufig unterschiedlicher Meinung. Einigkeit herrscht nun zumindest in dem Befund, dass das Engagement der Bürger in der bürgerorientierten Kommune Nürtingen (siehe „Nach wie vor wirbt die Stadt mit Bertelsmann“) schwächele. Beide beklagen das magere Interesse an den vom Rathaus im Vorfeld intensiv beworbenen Workshops zum integrierten Stadtentwicklungskonzept (ISEK). Der Prozess soll Leitbilder und Wegweiser für die künftige Entwicklung Nürtingens geben. Was die Gründe für die Krise der Beteiligung angeht, bieten die Fraktionschefs freilich unterschiedliche Erklärungen an.

 

Eine Handvoll Bürger in den Workshops

Dieter Braunmüller zufolge macht sich Resignation in Nürtingen breit. Zwar haben zum Auftakt des ISEK-Prozesses respektable 43 Prozent der angeschriebenen Bürger an einer Fragebogenaktion teilgenommen. Doch als es konkreter wurde, saßen nur eine Handvoll Bürger in den Workshops. Vielleicht seien die fünf Termine in nur einer Woche zu dicht gewesen, so Braunmüller, der bei Interessierten jedoch ein Gefühl der Ohnmacht vermutet. Viele dächten offenbar, dass die Stadtverwaltung und die Mehrheit des Gemeinderats ohnehin das machten, was sie wollten, ohne sich um kritische Geister zu kümmern. „Engagierte Bürger, die an der Stadtentwicklung Anteil nehmen, werden vielfach als Nörgler und Störenfriede betrachtet. Der Mehrheit der Entscheidungsträger sind stille Bürger lieber“, sagte der Chef der Fraktion Nürtinger Liste/Grüne kürzlich im Gemeinderat.

Bei der ISEK-Befragung haben sich die Bürger eine „Stadt am Fluss“ gewünscht. Als wenig erlebbar gilt der Neckar bisher. Zwischen dem Steinachdreieck und der Wörthbrücke will die Stadtverwaltung vor allem mit Unterstützung von Stadträten der CDU und den Freien Wählern Wohnhäuser am Neckar bauen. Seit Jahren gibt es großen Widerstand gegen das Projekt. 3000 Unterschriften hat das Forum Wörth an Otmar Heirich übergeben. Ein Runder Tisch ging nach der Ansicht vieler in die Hose. Der Oberbürgermeister zeigt sich von dem Protest bislang aber unbeeindruckt. Die Haltung der Verwaltungsspitze und der Gemeinderatsmehrheit rufe bei vielen Bürgern „traumatische Erinnerungen“ wach, vermutet Dieter Braunmüller.

Mehr Transparenz und tragfähige Lösungen

Ende August hat der Gemeinderat ein neues Beteiligungskonzept beschlossen, das zu mehr Transparenz und zu trägfähigen Lösungen in der Kommunalpolitik führen soll. Laut Braunmüller handelt es sich dabei um ein Lippenbekenntnis: „Es erfolgte zwar formell eine Zustimmung, doch es besteht wenig Hoffnung auf die inhaltliche Umsetzung der Vorschläge.“

Auf Mitbestimmung und Entscheidungskompetenzen von Bürgern hob Thaddäus Kunzmann in seiner Etatrede nicht ab. Laut dem CDU-Chef hängt die Workshop-Abstinenz mit einer Lähmung des Bürgertreffs zusammen. Die 1991 aus der Teufe gehobene Einrichtung ist „Anlaufstelle für bürgerschaftliches Engagement, Drehscheibe und Freiwilligenzentrum der Stadt Nürtingen“, heißt es auf der städtischen Homepage. Seit dem Ausscheiden des früheren Leiters Hannes Wezel vor zweieinhalb Jahren gingen vom Bürgertreff „leider keine Impulse mehr aus“, kritisiert Kunzmann. Der Landtagsabgeordnete sieht die Verantwortung im Rathaus. Trotz einer Personalaufstockung im Dezernat II der Kulturbürgermeisterin Claudia Grau lägen „keine Vorschläge der Verwaltung auf dem Tisch“, wie es mit dem Bürgertreff in Zukunft weitergehen solle.

Eine solche Perspektive aufzuzeigen, sie das Ziel einer für das Frühjahr vorgesehenen Sozialkonferenz, kontert Claudia Grau die Kritik der Christdemokraten. Dabei soll ein Konzept für den Treff erarbeitet werden – unter Beteiligung der Bürger.

Während Kunzmann und die Verwaltung den im Untergeschoss des Rathauses untergebrachten Bürgertreff als einen „Leuchtturm Nürtingens“ begreifen, gibt es in der Stadt auch kritische Stimmen. Dass im Treff wie von der Verwaltung postuliert alle willkommen seien, „die sich engagieren und ihre Ideen einbringen wollen“, bezweifeln sie. Gerne gesehen seien dort zwar alle, die keine unbequemen Fragen stellten. Wer hingegen das Rathaus aufsuche, um Missstände anzusprechen, den lasse die Verwaltung ins Leere laufen, so die Kritik an der Funktion des Bürgertreffs.

Nach wie vor wirbt die Stadt stolz mit Bertelsmann

Bürgertreff
Unter dem Dach des Bürgertreffs befinden sich Elterninitiativen, Stadtteilgruppen, Mensa-Mütter, Selbsthilfegruppen und klassische Vereine. Er soll die gesellschaftliche Vielfalt abbilden und Schnittstelle zwischen Verwaltung, Kommunalppolitik und Bürgern sein.

Auszeichnung
Der Verwaltung dient der Bürgertreff immer noch als Vorzeigeprojekt. Nürtingen war im Jahr 1999 beim bundesweiten Wettbewerb „Bürgerorientierte Kommune – Wege zur Stärkung der Demokratie“ der Bertelsmann-Stiftung mit dem ersten Preis ausgezeichnet worden.

Facebook
Bürgerbeteiligung hat in Nürtingen längst auch online ein Forum gefunden. Auf Facebook wird in den Gruppen „Nürtingen – was uns bewegt“, „Bürgerbeteiligung – jetzt“ und „Stadtbetrachtung Nürtingen“, ein reger politischer Gedankenaustausch gepflegt.