Eine Initiative will NS-Opfer aus dem Nebel des Vergessens holen. Noch immer gibt es in der Stadt keinen zentralen Ort des Gedenkens. Im Fokus steht auch der Alte Friedhof, der ein Beispiel für eine einseitige Erinnerungskultur ist.

Nürtingen - Auf dem Alten Friedhof am Nürtinger Neckar gibt es ein großes Kriegerdenkmal mit den Namen der im Ersten Weltkrieg umgekommenen Soldaten. Seit 1926 wird der Gefallenen beider Weltkriege beim Volkstrauertag – von 1934 bis 1945 hieß er Heldengedenktag – gedacht. Das imposante Denkmal und weitere Mahnmale, wie ein mit Stahlhelm und Eichenlaub versehener Gedenkstein, stehen in krassem Gegensatz zu den „Russengräbern“, die auf dem Alten Friedhof praktisch unsichtbar sind. Die NS-Opfer aus der Vergessenheit zu holen und die Vergangenheit aufzuarbeiten: das sind die Ziele, die sich die Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in der Stadt gesteckt hat.

 

Kein Holzkreuz, kein Grabstein und auch keine noch so kleine Tafel deutet darauf hin, dass direkt hinter dem zum Parkplatz der Bodelschwinghschule hin gelegenen Mauerdurchlass fünf oder sechs Menschen ihre letzte Ruhe gefunden haben. Die „Russengräber“ sind kaum auffindbar und nicht zu identifizieren. „Sie tragen keinerlei Bezeichnung und wirken wie eine Randbepflanzung des Friedhofs mit Koniferen“, schreibt Manuel Werner auf der Homepage der Gedenkinitiative.

Rund 20 Firmen haben Zwangsarbeiter eingesetzt

Der Autor des Buches „Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus“ hat dank der Unterstützung des Nürtinger Stadtarchivars Reinhard Tietzen herausgefunden, um wen es sich bei den namenlos beerdigten „Russen“ handelt: Fedor Karpenko, geboren am 25. März 1925, gestorben am 22. April 1943, Elena Nowrozkaja, geboren am 27. August 1926, gestorben am 8. Februar 1944, Pawlo Nesterez, geboren am 20. Februar 1923, gestorben am 31. März 1944, Dimitrio Dimitrios, geboren am 15. Oktober 1914, gestorben am 1. August 1944, Irina Dolgopjata, geboren am 23. April 1923, gestorben am 15. Juni 1945. Sie alle haben während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter in Nürtinger Betrieben schuften müssen. Etwa 17 Zwangsarbeiterlager oder -unterkünfte hat es Werner zufolge in Nürtingen gegeben, 21 Firmen setzten im Jahr 1945 Zwangsarbeiter ein.

Steinerne Zeugen erinnern an gefallene Wehrmachtssoldaten. Foto: Horst Rudel
Die Initiative macht auch auf die Misshandlungen aufmerksam, denen sich Zwangsarbeiter ausgesetzt sahen. Im Nürtinger Mühlwiesenlager etwa habe der Wachmann Friedrich Trost während des Gedränges beim Essenfassen die „Fremdarbeiter“ als „Saurussen“ bezeichnet und ihnen mit Ochsenziemern über die Köpfe geschlagen. Auch Mädchen seien hemmungslos und brutal zusammengeschlagen und teils auch sexuell ausgebeutet worden. Weniger als zehn „Ostarbeiter“ seien im örtlichen Leichenschauregister verzeichnet. Die geringe Zahl lasse sich leicht erklären, so Werner. Schwer kranke Arbeiter seien meist frühzeitig abgeschoben worden, so dass sie nicht in Nürtingen, sondern andernorts starben.

In Nürtingen gibt es keinen zentralen Ort des Gedenkens

Die Schicksale der Zwangsarbeiter stehen stellvertretend für andere Opfergruppen. Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, politisch Andersdenkende – sie alle standen im Visier des NS-Regimes. Die Initiative versucht die lokalen Geschehnisse von damals zu rekonstruieren, wobei sie den Fokus nicht nur auf die Stadt, sondern auf das ganze Gebiet des Altkreises Nürtingen richtet.

Erste Überlegungen zur Gründung einer Gedenkinitiative gehen auf das Jahr 2008 zurück. Seit zwei Jahren erweitert sich der Kreis jener, die sich den NS-Opfern verpflichtet fühlen. Bei einem Treffen haben sich zuletzt an die 30 Leute zusammengefunden, um über Projekte zu sprechen. Ein Hauptanliegen der Initiative ist, einen Erinnerungsort zu schaffen, der in Nürtingen bis jetzt fehlt. „Wir wünschen uns in der Stadt eine zentral gelegene Gedenkstätte, an der alle Opfergruppen ihren Platz finden“, sagt Stefan Kneser von der Initiative. Neben allgemeinen Informationen sollen dort auch Einzelschicksale vorgestellt werden, um die Verbrechen konkret an Personen festzumachen. Der Initiative gehe es nicht um „Büßertum“, erklärt Stefan Kneser, der als Geschichtslehrer am Hölderlingymnasium bereits ein Schulprojekt angestoßen und damit bei seinen Schülern Interesse und Anteilnahme gefunden hat.

Die Initiative sperrt sich gegen die Verdrängung

„Nürtingen tut sich mit der Erinnerungsarbeit bisher sehr schwer“, sagt Michaela Saliari von der Initiative. Es gelte, ein Bewusstsein für die Verfehlungen der NS-Zeit zu wecken und sie nicht weiter zu verdrängen. Darauf aufbauend soll ein Gefühl der Verantwortung entstehen, damit sich die Verbrechen nicht wiederholen. Dabei müsse man sensibel vorgehen, um die Menschen nicht zu verschrecken, denn in den Blickpunkt rücken sollen nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter von damals. Wer waren sie? „Diese Frage wird sich natürlich stellen, und sie muss auch gestellt werden“, sagt Stefan Kneser.

Die Namen der namenlos beerdigten Zwangsarbeiter sind inzwischen bekannt. Nun sollen sie auch ihre Würde zurückerhalten. Dafür wollen sich der Schwäbische Heimatbund und die Gedenkinitiative gemeinsam einsetzen. Zwei Vorschläge gibt es. Aus den „Russengräbern“ könnten „normale, würdige bürgerliche“ Gräber werden, mit allen hierfür nötigen Angaben. Oder aber es könnten wieder einzelne Grabhügel geformt werden, mit den Zwergkoniferen darauf, und an jedes Grab könnten zusätzlich die Namen angebracht werden. Zudem ist an eine erklärende Tafel gedacht, die in ein Erinnerungskonzept für den gesamten Alten Friedhofs eingebettet ist.