Im Streit über eine geplante Biogasanlage in Nürtingen beginnt am Dienstag die mündliche Verhandlung am Verwaltungsgericht Stuttgart. Der erste Rechtsstreit zwischen der Region und dem Land zeigt exemplarisch, welche Probleme sich bei der Energiewende auftun könnten.

Nürtingen - Die Energie der Zukunft wird vor Ort erzeugt“ – mit diesem Slogan werben die Stadtwerke Nürtingen für die geplante Biogasanlage an der Grenze zur Nachbargemeinde Großbettlingen, die sie zusammen mit dem Investor Refood bauen und betreiben will. Mit der industriellen Vergärung von Speiseresten will der kommunale Energieversorger so viel Gas ins öffentliche Netz einspeisen, dass der Nürtinger Bedarf an Erdgas bis zu 20 Prozent gedeckt wird. Die Sache hat aber einen Haken. Der vorgesehene Standort liegt in einem geschützten Grünzug. Der Verband Region Stuttgart hat daher vor einem Jahr gegen eine Ausnahmegenehmigung geklagt, die das Regierungspräsidium Ende Dezember 2011 erteilt hatte. Nachdem der ursprünglich geplante Termin Mitte Januar wegen der Erkrankung eines Anwalts verschoben werden musste, beginnt am Dienstag am Verwaltungsgericht Stuttgart die öffentliche Verhandlung in diesem einmaligen Rechtsstreit zwischen der Region Stuttgart und dem Land Baden-Württemberg.

 

Das Verfahren vor der 2. Kammer unter dem Vorsitz des Verwaltungsgerichtspräsidenten Stefan Kuntze konzentriert sich wohl auf planungsrechtliche Fragen. Wie bindend ist der Regionalplan, der dort eine Bebauung untersagt? Wie stark muss geprüft werden, wenn doch – in einem sogenannten Zielabweichungsverfahren – eine Genehmigung erteilt wird? Und hat das Regierungspräsidium (RP) Stuttgart als zuständige Landesbehörde die Vor- und Nachteile der Anlage bei der Entscheidung genügend abgewogen?

Aus Sicht der Region hätte der Suchlauf größer sein müssen

In der Regionalversammlung gab es für die Klage eine knappe 43-zu-35-Mehrheit. Die Befürworter schlossen sich der Meinung Thomas Kiwitts an, des Chefplaners der Region. „Für die Klage ist maßgeblich, dass regionalplanerische Erwägungen zum Schutz der Landschaft nicht oder nur zu unzureichend berücksichtigt wurden“, kritisiert er das Regierungspräsidium. Und Joachim Hölscher von den Freien Wählern attestiert: „Im Wesentlichen wird vom Regierungspräsidium nur auf das Ziel der Landesregierung abgehoben, den Anteil erneuerbarer Energiegewinnung zu erhöhen“. Die Region macht zudem geltend, dass keineswegs geprüft worden sei, ob solch eine Anlage nicht in einem Industriegebiet anzusiedeln sei. Sie bezweifelt auch, dass es genügt, Standorte auf der Markung einer Kommune zu prüfen, zumal die Biogasanlage ein Einzugsgebiet von 150 Kilometern hat. „Das Gericht wird entscheiden, welche Anforderungen an ein Zielabweichungsverfahren zu richten sind“, sagt Kiwitt, der über mögliche Auswirkungen der Entscheidung nicht spekulieren will.

Das Regierungspräsidium hingegen ist sich keines Versäumnisses bewusst. Vor rund einem Jahr war es zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das Gebiet Großbettlinger Gatter für das Projekt grundsätzlich eigne. „Wir haben mit aller gebotenen Sorgfalt geprüft“, kontert der RP-Sprecher Clemens Homoth-Kuhs die Kritik des Verbands. Aus Behördensicht wäre der Bau der Anlage auf einer Fläche von rund 2,3 Hektar nur ein „relativ kleiner Eingriff“ in den geschützten Landstrich und somit vertretbar. Zu dieser Einschätzung war zuvor auch schon der Petitionsausschuss des Landtags gekommen.

Großbettlinger Bürgermeister wittert politische Einflussnahme

Die Entscheidungen der Parlamentarier und hernach der Landesbehörde haben in Großbettlingen große Enttäuschung hervorgerufen. Die Gemeinde lehnt eine Biogasanlage in der geplanten Größe vor ihrer Haustür kategorisch ab und befürwortet die jetzt anstehende juristische Klärung. Großbettlingen befürchtet, dass es durch den Betrieb der Anlage vom großen Nachbarn her herüberstinken könnte. Der Bürgermeister Martin Fritz (CDU) ist überzeugt, dass bei der Ausnahmegenehmigung Druck von oben ausgeübt wurde. „Wir haben den Eindruck, dass beim Regierungspräsidium die Politik maßgeblich die Feder geführt hat“, sagte Fritz nach dem Bekanntwerden der Entscheidung. Der in Nürtingen wohnhafte Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) wies dies umgehend zurück.

Der Streit über die geplante Biogasanlage in Nürtingen steht exemplarisch für die Schwierigkeiten, die sich bei der Umsetzung der Energiewende auftun können. Die grün-rote Landesregierung hat das Ziel ausgegeben, bis zum Jahr 2020 rund 38 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu schöpfen. Um es zu erreichen, müssen zahlreiche Biogas-, Windkraft- und Fotovoltaikanlagen gebaut werden. Außerdem müssen Anlagen errichtet werden, in denen sich Energie speichern lässt. Der Ballungsraum Stuttgart steht dabei nicht außen vor. Dutzende solcher Großanlagen müssten in der dicht besiedelten Region entstehen.

Das birgt Konflikte – wie sie sich exemplarisch bei der Windkraft zeigen. Kritiker wenden ein, dass Windräder historisch gewachsene Landschaften verschandeln. In Ingersheim (Kreis Ludwigsburg) beispielsweise ist im Juni ein 180 Meter hohes Windrad gegen erhebliche Widerstände in Betrieb genommen worden, die Gegner zogen in zwei Instanzen den Kürzeren.

Nürtingen will bis 2046 energieautark sein

Ein ähnlich ehrgeiziges Ziel wie die Landesregierung hat sich Nürtingen gegeben. Im Jahr 2046, zur Tausendjahrfeier, will die Stadt energieautark sein, also maximal so viel Energie verbrauchen, wie sie selbst produziert – und das möglichst nur mit erneuerbarer Energie. Ein wichtiger Baustein ist die Biogasanlage.

Dass die Anlage stinken könnte, bestreitet der Geschäftsführer der Stadtwerke, Volkmar Klaußer. Für ihn hat das Projekt unbestreitbare Vorzüge. So müssten durch die Verarbeitung von Abfallprodukten keine ökoschädlichen Monokulturen, etwa in Entwicklungsländern, angelegt werden. Holger Grund, der Metzinger Niederlassungsleiter des deutschlandweit agierenden Refood-Konzerns, betont die Nachhaltigkeit: „Es entsteht kein Konflikt zwischen Teller und Tank, Regenwälder müssen nicht gerodet werden.“

Endete der Rechtsstreit für die Investoren positiv, wäre das zwar eine Richtungsentscheidung, aber kein Ersatz für das gesetzlich vorgeschriebene Genehmigungsverfahren vor Ort. Nürtingen blieb in der Hängepartie deshalb nicht untätig. Gegen Widerstände in der Verwaltungsgemeinschaft hat die Stadt die Änderung des Flächennutzungsplans forciert.

Auch die Region hat sich planungsrechtlich gewappnet. Die Regionalversammlung beschloss Mitte 2012 einen Kriterienkatalog für Biogasanlagen, der die Standortsuche künftig erleichtern und kanalisieren soll. Die erste Adresse sind danach Gewerbe- und Industriegebiete. Erst wenn dort die Ansiedlung nicht möglich ist, sollen auch Freiräume in Betracht kommen – aber nur, wenn dort bereits Kraftwerke oder andere Anlagen stehen.

Die Anlage verarbeitet pro Jahr 45 000 Tonnen Biomasse

Die geplante Biogasanlage für neun Millionen Euro soll pro Jahr 45 000 Tonnen Biomasse in Energie umwandeln. Die Lebensmittelabfälle werden zerkleinert, erhitzt und dann vergärt. Dabei entsteht methanhaltiges Biogas, das in einem weiteren Schritt zu Erdgas aufbereitet und ins Netz eingespeist wird.

Die Pläne für die Nürtinger Biogasanlage gibt es seit September 2008. Die Region befürwortete den ersten ebenfalls im Grünzug gelegenen Standort. Dann wurde in dem Wäldchen der geschützte Baumfalke entdeckt. Der jetzt diskutierte Standort befindet sich wenige hundert Meter entfernt auf freiem Feld.

Der Regionalplan legt im Groben fest, welche Flächen für welche Nutzung reserviert sind. Er weist dort Grünzüge aus, wo das Landschaftsbild erhalten werden soll und Areale für die Landwirtschaft und Naherholung wichtig sind. Bauen ist in diesen großen Freiräumen nur im Ausnahmefall erlaubt