Der Standort des neuen Schulungszentrums für VW-Mitarbeiter liegt in einem Überschwemmungsgebiet. Die Ansiedlung stand deshalb auf der Kippe. Doch der rasche Spatenstich vor knapp einem Jahr hat das Vorhaben gerettet.

Nürtingen - Noch vor ein paar Monaten war der Oberbürgermeister Otmar Heirich skeptisch, was die geplante Ansiedlung eines VW-Qualifizierungszentrums in Nürtingen betrifft. Der Grund war die sich abzeichnende Novelle des Wassergesetzes. „Nach unserem Kenntnisstand kann VW nicht bauen“, warnte Heirich im vergangenen November. Nun baut VW in dem hochwassergefährdeten Gewerbegebiet Au im Teilort Zizishausen doch. Die Bagger sind angerückt, und spätestens im Herbst soll das Fortbildungszentrum in Betrieb gehen.

 

Ausnahme vom Bauverbot

Gerettet hat das Bauvorhaben ein zumindest formaler Baubeginn noch vor dem 1. Januar 2014. An diesem Tag trat das geänderte Wassergesetz in Kraft. Seither darf in gefährdeten Gebieten nur noch dann gebaut werden, wenn es Schutzvorrichtungen gibt. Dämme dürfen jedoch nicht zu gravierenden Verschlechterungen stromabwärts führen. Ausnahmen vom Bauverbot sind zudem möglich, wenn an anderer Stelle Retentionsflächen vorhanden sind, die bei Hochwasser überflutet werden können. In Nürtingen sind jedoch nicht nur Retentionsflächen knapp, sondern auch das Geld. Um den Hochwasserschutz auf den geforderten Stand zu bringen, rechnet Nürtingen mit Kosten von insgesamt bis zu 25 Millionen Euro.

Die Gesetzesänderung habe die Nürtinger Bauverwaltung gezwungen, „kreativ tätig zu werden“, erklärt deren Leiter Walter Haußmann. Volkswagen erhielt eine Teilbaugenehmigung, die unter anderem eine Baugrunduntersuchung abdeckte. Im Dezember dann gab es den ersten Spatenstich, danach passierte auf dem Gelände vorerst nicht mehr viel. Laut Haußmann kann nach der Bauordnung ein Projekt bis zu einem Jahr lang unterbrochen werden.

20 Beschäftigte soll das Zentrum haben

„Wir haben keine Lex VW geschaffen“, betont der Amtsleiter. Die Stadt habe auch im Fall von anderen Firmen, bei denen dies in Frage gekommen wäre, zum Mittel eines raschen Baugebinns gegriffen. Andere Kommunen, die in Überschwemmungsgebieten lägen, seien ebenfalls nach diesem Muster verfahren, erklärt Haußmann. Unabhängig davon soll das gefährdete Gebiet Au aber besser geschützt werden. Der Antrag auf Zuschüsse beim Land für eine Ertüchtigung des Hochwasserschutzes läuft. Zizishausen hat dabei Priorität, möglich ist eine Förderung von bis zu 70 Prozent.

Der Wolfsburger Konzern hat in Zizishausen einen Hektar Fläche gekauft. Der Bauherr ist die Volkswagen Group Real Estate. Rund 20 Beschäftigte soll das Qualifizierungszentrum haben, in dem Mitarbeiter von VW-Autohäusern geschult werden. Die Rede ist von bis zu 100 Teilnehmern pro Tag, die teils mehrtägige Seminare besuchen. In dem Gebäude sollen Beschäftigte aus dem technischen und dem kaufmännischen Bereich für aktuelle Volkswagen-Modellen fortgebildet werden. Eingeschlossen ist auch eine IT-Schulung. Bessere Servicequalität und zufriedenere Kunden – das verspricht sich VW von dem Zentrum.

Wie hoch die Investition in Nürtingen ist, sagt der Konzern nicht. Nach Informationen des Branchenmagazins „Autohaus“ hat ein vergleichbares Zentrum in Ludwigsfelde aber 7,2 Millionen Euro gekostet.

Hohe Erwartungen verknüpft die Stadt mit dem Projekt. Heirich sieht einen Imagegewinn für Nürtingen und hofft auf Tagesbesucher und Übernachtungsgäste, die das Geschäft ankurbeln. Gerechnet wird mit täglich 50 bis 60 Übernachtungen, die das Zentrum zusätzlich bringt. Ob sich VW beim Elektro-Bus einklinken wird, ist offen. Eine Linie, die die Gewerbegebiete Bachhalde und Au an den Bahnhof anbindet, hat die Stadt bereits beschlossen. Geplant ist, dass sich Unternehmen, die den Service nutzen, finanziell beteiligen. Offen ist aber noch, ob Firmen da mitspielen.

Ein Konzern – Viele Marken

Produkte
Volkswagen zählt neben General Motors und Toyota weltweit zu den drei absatzstärksten Automobilherstellern. Zum Portfolio des Konzerns gehören die Marken Volkswagen, Audi, Seat, Škoda, Porsche, Bentley, Bugatti, Lamborghini, Volkswagen Nutzfahrzeuge, Scania, MAN und Ducati. Dabei operiert jede Marke selbstständig am Markt. Das Angebot reicht von verbrauchsarmen Kleinwagen bis hin zu Luxusautos. Bei den Nutzfahrzeugen reicht die Palette von Pick-ups über Busse bis hin zu Schwertransportern.

Absatz
Nach 18 Monaten Talfahrt meldete Volkswagen am Montag wieder steigende Verkaufszahlen in den USA. Demnach lag der Absatz der Kernmarke VW Pkw im Oktober bei 30 300. Das sind acht Prozent mehr als vor einem Jahr. 2013 hatte der gesamte Konzern rund 9,7 Millionen Fahrzeuge ausgeliefert – mehr als je zuvor in seiner Geschichte.

Pro – Positives Signal

Nürtingen - Ludwigsfelde in Brandenburg, Freising in Bayern, Unna in Nordrhein-Westfalen und nun Nürtingen. Dass VW sein viertes Schulungszentrum für den Südwesten hier am Neckar baut, ist für die Stadt eine gute Nachricht. Zu Recht hoffen die Verantwortlichen im Rathaus darauf, dass Seminarteilnehmer Kaufkraft in die Stadt bringen und das Geschäft von Hoteliers und Einzelhändlern beleben.

Die Entscheidung von VW für Nürtingen fügt sich ein in eine Reihe von Investitionen, die als ein Bekenntnis wichtiger Firmen für die Region Stuttgart zu werten sind. Bosch baut ein Forschungszentrum in Renningen, Porsche investiert in Weissach, Kärcher in Winnenden und Daimler in Sindelfingen. Für die jeweiligen Städte und für die gesamte Region sind diese positiven Signale aus der Wirtschaft von großem Wert. Die Investitionsentscheidungen sind ein Hinweis auf gute Standortbedingungen und tragen zur Sicherung des Wohlstands am Mittleren Neckar bei – und dies rechtfertigt auch ungewöhnliche, aber unter dem Strich legitime Griffe in die Trickkiste bei der Genehmigung. (Wolfgang Berger)

Kontra – Geld verweigern

Nürtingen - Es ist unverschämt: Mit der einen Hand rammt man den Spaten bei einem vorgetäuschten Baubeginn im Hochwassergebiet in die Erde, der, wie man genau weiß, schon kurz darauf nicht mehr genehmigt würde. Die andere Hand hält man gleichzeitig auf und will Geld vom Steuerzahler, der den Hochwasserschutz für VW und andere mitbezahlen soll. Es hat gute Gründe, dass das Land versucht, Hochwasserzonen von Gebäuden freizuhalten – nicht zuletzt, weil sonst immer wieder hohe Schäden entstehen. Dass die Stadt Nürtingen und die Firma VW in komplizenhafter Gemeinsamkeit diese Absicht mit einem Trick hintertreiben und auch noch Geld dafür wollen, ist ein Unding.

Wenn es die Förderrichtlinien irgend zulassen, sollte ihnen das Land die Förderung verweigern. Wenn sie unbedingt dort bauen wollen, sollen sie den Hochwasserschutz auch selbst finanzieren – und künftige Schäden auch. Es gibt in der Region durchaus andere Flächen, wo VW bauen könnte, etwa auf dem Böblinger Flugfeld. Es liegt verkehrsgünstig, ist erschlossen – und Hochwasser ist dort kaum zu erwarten. (Norbert Burkert)