Eine Woche vor der Wahl beginnt für die Kandidaten um den Chefsessel im Stuttgarter Rathaus der Endspurt. Wer hat das Zeug, die nach dem Bahnhofsstreit gespaltene Stadt zu versöhnen? Beobachtungen vom Wahlkampf auf den Wochenmärkten.

Stuttgart - Der Brezelmann kommt. Er hat das Laugengebäck als Plastikschild in XXL-Größe unter den Arm geklemmt und steuert den Stehtisch an, wo seine Unterstützer auf ihn warten. Sebastian Turner läuft an den Ständen von „Eyer-Bleyer“ und „Wurst Wahl“ vorbei, seine schwarzen Lederschuhe glänzen. Der Kandidat trägt eine randlose Brille, eine dunkle Anzughose und ein blaues Hemd. So würde er auf einer Veranstaltung mittelständischer Unternehmer niemals auffallen. Aber an diesem Morgen trifft sich Sebastian Turner nicht zum Business-Lunch, er muss sich dort behaupten, wo das Volk sein Gemüse einkauft. Und auf dem Wochenmarkt in Bad Cannstatt fällt der 46-Jährige aus dem Rahmen. Eine ältere Dame schiebt sich mit ihrem Rollator näher, blickt auf das Foto auf einem Plakat, schaut Turner ins Gesicht und lächelt: „I wollt bloß schaue, ob Sie’s wirklich send.“

 

Endspurt im Wahlkampf. Die Stuttgarter machen sich ein Bild von den Kandidaten, die nach 16 Amtsjahren von Wolfgang Schuster im Rathaus auf dem Chefsessel Platz nehmen wollen. Wie ticken die Politiker, die seit Wochen auf zahllosen Plakaten in der Stadt zu sehen sind? Welche Menschen verbergen sich hinter den Floskeln? Stuttgart, heißt es oft, brauche einen Versöhner. Einen Oberbürgermeister, der mit den Menschen kann, der „Bahnhof“ sagt, ohne einen Sturm der Empörung zu ernten. Auch eine mögliche Chefin befindet sich im Rennen.

Die Themen reichen vom Irak bis zur Stadtbahn

Sebastian Turner redet über den Irak. Eine Frau hat ihn angesprochen, sie sei 41 Jahre alt, sie komme aus dem Irak und sei mit einem Deutschen verheiratet. In ihrem Heimatland habe sie an der Universität unterrichtet, aber in Stuttgart werde ihr der Abschluss nicht anerkannt. Was er darüber denke? Erst kürzlich sei er auf dem Meldeamt gewesen, erzählt der unter anderem von der CDU nominierte Turner, „ein Problem sei die Verlässlichkeit der Dokumente“. Im Übrigen sei es ihm ein Anliegen, dass qualifizierte Zuwanderer schnell Arbeit fänden. Der kleine Sohn der Irakerin zappelt an ihrer Hand, Turner lächelt. „Die Luftballons kommen gleich.“ 

Im Gespräch ist der Unternehmer wendig. Zwischen Spitzkraut und Kohlrabi redet er mit einer jungen Mutter über die Stadtbahn, mit einem älteren Mann über vermeintliche Defizite, „Herr Turner, Sie müsset forscher sein“, und beruhigt einen Sympathisanten: „Ich habe schon anstrengendere Jobs gehabt – das findet hier ja alles in einer Zeitzone statt.“ Es ist einer der wenigen Momente, in denen Turner ein Bezug zu seiner Vergangenheit als Chef der Werbeagentur Scholz & Friends entschlüpft. Sebastian Turner, ein Weltbürger als Oberbürgermeister? Miles and more.

Die Händebrezel ist allgegenwärtig

Das „Miteinander“ hat er zum Schlagwort seiner Kampagne gemacht. Die Brezel mit den sich umschlingenden Händen ist sein Markenzeichen. Turner bedient damit eine Sehnsucht in der Stadt. Er selbst hat seit seiner Plakataffäre bis jetzt jedoch am meisten an der Brezel zu knabbern. Im Vorübergehen raunzt ihn eine Dame an: „Hauet bloß ab, ihr Ausbeuter!“ Beim Kandidaten bewegen sich die Mundwinkel keinen Millimeter. Stuttgart 21, die Eurokrise oder die Kitas – Sebastian Turner redet immer in ein und demselben ruhigen Tonfall. Sein Signal: ist alles nicht so schlimm, habe alles im Griff, „ich erkläre es Ihnen gern“.

„Guten Morgen!“ Ihre Stimme ist wie ein Weckruf. Bettina Wilhelm schüttelt am Ostendplatz viele Hände. Nebenan löffelt ein Mann am Marktstand „Akropolis“ Auberginensalat in ein Plastikschälchen, Knoblauchduft liegt in der Luft. Am Stehtisch in SPD-Rot pumpen Mitarbeiter des Wahlkampfteams Luftballons auf. Bettina Wilhelm trägt einen beigefarbenen Hosenanzug, ihre gute Laune steckt ihre Begleiter an. Schon verteilt sie auf dem Wochenmarkt Prospekte, „bitteschön, gern!“ und spricht einen Herrn mit Schiebermütze an: „Haben Sie sich ein bisschen mit der Wahl beschäftigt?“ Hat er nicht. Wie die Kugel in einem Flipper pendelt Bettina Wilhelm auf dem Markt von links nach rechts und zurück. Sie redet darüber, ob Sie noch Schwäbisch könne, „aber grottabroit!“ Beim nächsten Gespräch zeigt sie Verständnis für eine Frau, die sich über überquellende Mülltonnen ärgert, „schlimm, ganz schlimm!“ Dann bleibt sie länger stehen und erklärt ihre Ziele: „Das Thema Wohnen ist für mich ganz wichtig und die Nahversorgung beim Einzelhandel auch.“



Fritz Kuhn bleibt ein Mann der leisen Töne

Am Akropolis-Griechen ist die von der SPD unterstützte Kandidatin schon vorbei, an der Käsetheke spricht sie ein Paar an: „Guten Morgen, Bettina Wilhelm ist mein Name.“ Frau Wilhelm ist eher klein, aber sie ist nicht zu übersehen – und schon gar nicht zu überhören. Die 48-Jährige stammt aus einer Wengerterfamilie am Rotenberg, mitten im Volk hat sie ein Heimspiel. Wenn Bettina Wilhelm auf dem Markt Zwetschgen verkaufen müsste, würde sie zweifellos viele Zwetschgen verkaufen.

Sie verkauft aber Politik. Zwei ältere Damen zeigen sich solidarisch: „Dass sich eine Frau reinwagt in das Getümmel“, sagt die eine, „mir wählet Sie eh“, die andere. „Danke, sehr nett, das freut mich!“ Es läuft gut für Bettina Wilhelm – bis Stuttgart 21 ins Spiel kommt. „Die Tunnel, die gegraben werden, ein Albtraum“, sagt eine Frau, „das belastet mich, ich überlege mir schon wegzuziehen, es ist ein Jammer!“

Die Kandidatin nickt verständnisvoll, das höre sie öfter, aber da geht die Frau schon weiter. Bettina Wilhelm schüttelt in einer halben Stunde so viele Hände wie Sebastian Turner in der doppelten Zeit. Sie spürt, wenn Menschen keine Lust auf ein Gespräch haben. Aber einen Flyer gibt es trotzdem: „Leset Sie einfach mal rein!“

Der rote Stuttgarter Osten leuchtet orange. Wenige Tage nach Bettina Wilhelm ist Hannes Rockenbauch zu Besuch auf dem Markt, und aus der Ferne wirkt es, als habe die CDU einen Wahlkampfstand in Merkel-Orange aufgebaut. Aus der Nähe betrachtet unterscheidet sich nicht nur der Farbton. Zwei Trommler machen die Musik, in einem Buggy kräht ein Junge, der sich an einer Karotte verschluckt hat.

Hannes Rockenbauch beherrscht die lauten wie die leisen Töne

Hannes Rockenbauch hat Verstärkung mitgebracht. Der Bonatzenkel Paul Dübbers steht im Publikum, neben ihm der Stadtrat Gangolf Stocker – Hannes Rockenbauch hält ein Mikrofon in der Hand, er wartet vor einem Biertisch, auf dem seine Flyer liegen. Vor dem direkten Gespräch mit den Menschen will er über seinen Blick auf die Stadt reden. Er ist der Jüngste im Kandidatenfeld, er polarisiert wie kein Zweiter. Rockenbauch, die Reizfigur: der Stadtrat der Liste Stuttgart Ökologisch und Sozial trägt Jeans, sein hellblaues Hemd hat er an den Armen hochgekrempelt. Eine halbe Stunde spricht er über die Wohnungsnot, über Investoren-Heuschrecken und darüber, dass der Gewerbesteuersatz steigen solle. Er variiert das Tempo, wechselt zwischen leisen Tönen (Wohnungsnot) und schnellen Passagen, in denen er lauter wird (Heuschrecken). Das Reden hat er im Gemeinderat gelernt und beim Straßenprotest. Aber in diesem Wahlkampf bellt er nicht nur, er setzt auch seinen Schwiegersohncharme ein.



Stuttgart 21 – das Wort erwähnt Hannes Rockenbauch erst nach einer halben Stunde. Eine Hand hat er in der Hüfte abgestützt, den Tiefbahnhof hält er noch immer für ein von der Bahn und der Bau- und Politmafia ausgetüfteltes Teufelswerk. Er sagt es nur nicht mehr so, es klingt nüchterner. Das Leben ist seit dem Volksentscheid weitergegangen, auch der Ahornbaum, in dessen Schatten Rockenbauch steht, hat seine ersten Blätter verloren.

Eine Frau erklärt ihm, dass es unbedingt wieder einen Ikea in der Stadt geben müsse. Rockenbauch sieht das anders, er schätzt den Handwerker vor Ort, räumt aber ein: „Ich war auch schon bei Ikea.“ Dann fügt er seinen Schlüsselsatz hinzu: „Man müsste das mit den Bürgern diskutieren.“ Nach einer knappen Stunde verlässt er den Osten, zu Fuß mit dem Hinweis, dass er keinen Führerschein besitze.

Der Mann auf dem Fahrrad stoppt abrupt vor Fritz Kuhn. Der weiß schon, was jetzt auf ihn zukommt. „Warum suchen die Amerikaner nach Leben auf dem Mars, wenn hier ein kleines grünes Männle rumläuft?“, sagt der Radfahrer und fährt gleich darauf davon. Fritz Kuhn atmet durch, er steht mit seinen Wahlzetteln und zwei Helfern in der Untertürkheimer Fußgängerzone, und der Mann hat ihm den Witz nun schon zum zweiten Mal vorgetragen.

Bei Rezzo Schlauch hat er damals die Stippen gezogen

Auch Fritz Kuhn ist auf dem Wochenmarkt unterwegs, der in diesem Herbst ein Markt der politischen Meinungen ist. „Hallo, darf ich Ihnen meine Karte geben?“ Kuhn macht Wahlkampf in eigener Sache. Es ist eine kleine Ewigkeit her, dass er für seinen Freund Rezzo Schlauch im Stuttgarter OB-Wahlkampf die Strippen gezogen hat. Der Auftritt der beiden könnte unterschiedlicher nicht sein. Schlauch, der Poltergeist, die politische Rampensau. Kuhn, ein Mann der leisen Töne.

Er drängt sich nicht auf. Fritz Kuhn, der zur Bluejeans ein weißes Hemd und ein graues Sakko trägt, bleibt vor einer älteren Dame mit Handwägelchen stehen. „Was fehlt Ihnen hier zum Einkaufen?“ Die Frau erzählt von den Geschäften, die in den vergangenen Jahren geschlossen hätten und von der schlechten Busverbindung. „I hab ja in Luginsland gwohnt“, schwäbelt Kuhn, „deswegen isch mir des net unvertraut.“ Die Formulierung passt zu Fritz Kuhn: „Nicht unvertraut.“

Kuhn tastet sich voran. In Untertürkheim, beim Gespräch mit den Menschen, genau wie in der Politik. Der 58-Jährige ist zu lange im Geschäft, um in Schwarz-Weiß-Schablonen zu denken, er kennt die Grautöne. Der Kandidat betritt einen Fairtrade-Laden, fragt, wie’s geht, und redet über die vielen Spielcasinos am Bahnhof, die ihn stören. „Deswegen funktioniert der Bahnhof nicht mehr“ – im Gegensatz zum Fairtrade-Laden. Der Bioapfelsaft läuft. Wieder auf der Straße trifft Kuhn einen früheren Nachbarn aus Luginsland. Man hält ein Schwätzchen, die Kinder seien groß geworden. „Und schöne Grüße an Ihre Frau!“ Kuhn läuft weiter, „seine Tochter hat früher mit meinem Kleinen gesandelt“.

Wird die alte Heimat für Fritz Kuhn zur neuen? Aus dem Bundes- ein Kommunalpolitiker? Am Fischstand hastet ein junger Mann an ihm vorbei, das Handy am Ohr: „I wähl keine Grüne!“ faucht er in Kuhns Richtung. Ein älteres Paar lässt ihn achtlos stehen. „Manchmal ist es ein zähes Ringen“, sagt Fritz Kuhn und lächelt.

Den Favoriten bleibt noch eine Woche Zeit. Stuttgart hat die Wahl zwischen vier verschiedenen Temperamenten.