Wolfgang Schuster hat Stuttgart 16 Jahre lang mitgeprägt. Zum Abschied zieht die StZ in einer Serie Bilanz. In Teil 3: Stuttgart 21 spaltet die Stadt nach wie vor in zwei Hälften. Daran hat der scheidende OB erheblichen Anteil.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Es war ein herrlicher Spätsommertag, an dem Wolfgang Schuster den Tiefpunkt seiner Amtszeit erreichte. Ein lauer Wind belüftete den Kessel an jenem 25. August 2010, die Sonne schien und verstand sich ohne Zweifel besser mit den wenigen Wolken, die am Himmel versammelt waren, als unten auf Stuttgarter Boden der Oberbürgermeister mit einem Teil seines empörten Volks.

 

Am Hauptbahnhof beobachteten Tausende von Stuttgart-21-Gegnern, wie die von der Deutschen Bahn beauftragten Bagger Löcher in den Nordflügel fraßen. Sieben Aktivisten waren auf das Dach des zum Abriss freigegeben Gebäudes geklettert, um auch symbolisch oben zu bleiben; sie schützten sich mit bunten Schirmen vor der Sonne, ehe vermummte Polizisten dem illegalen Teil des Protestes ein Ende setzten.

Nachmittags marschierten 200 Demonstranten zum Innenhof des Alten Schlosses. Sie schrien, pfiffen und warfen mit Eiern auf die geladenen Gäste, die sich eingefunden hatten, um das Weindorf zu eröffnen. Von Polizisten geschützt trat Wolfgang Schuster in den Hof. Gequält lächelnd setzte er sich neben die Württembergische Weinkönigin, lauschte den Reden, ehe er selbst das Wort ergriff und den Innenminister Heribert Rech bat, den vielen Ordnungskräften in seinem Namen dafür zu danken, dass sie den Lärm der Demonstranten so tolerant ertrügen. Dann rief der Oberbürgermeister der schwäbisch-liberalen Kapitale: „Wir lassen uns das Weindorf nicht vermiesen.“

Stuttgart 21 spaltet die Stadt

Dieser Satz wird mit Wolfgang Schuster nach Hause gehen. Sieben Worte nur. Doch sie zeigen, wie tief Stuttgart 21 die Stadt gespalten hat – und wie sehr der Oberbürgermeister, trotz aller gegenteiliger Beteuerungen, das Seine zu diesem bis zum Ende seiner Amtszeit anhaltenden Zustand beigetragen hat. Mit dem Titel „Stadt ohne Oberhaupt“ überschrieb die Stuttgarter Zeitung seinerzeit ihren Leitartikel zum Thema. Die „Stuttgarter Nachrichten“ konstatierten, dass Schuster „auf dem Zenit seiner Unbeliebtheit angekommen sein dürfte“.Zweieinhalb Jahre später bekennt sogar Wolfgang Dietrich, dass der Befürworter Schuster mit seinem damaligen Auftritt auf dem Weindorf einen verhängnisvollen Fehler begangen hat. „An Stuttgart 21 erkennt man die Stärken und die Schwächen des Wolfgang Schuster“, sagt der Cheflobbyist und Sprecher des immer teurer werdenden Projekts. Als Visionär habe der Oberbürgermeister stets die Chancen des neuen Bahnhofs gesehen. Dabei habe Schuster nicht nur erkannt, dass die im Kessel gefangene Stadt plötzlich ein komplett neues Quartier erhalten könnte. „Er hat auch sensationell verhandelt“, sagt Dietrich. Mit ihrem Anteil von 291 Millionen Euro zahle die Stadt allenfalls „ein Nasenwasser“ – und trotzdem „setzt die Bahn fast alles um, was die Stadt wollte“.

Dennoch habe es Schuster „nicht geschafft, die Leute für Stuttgart 21 zu begeistern“, moniert Dietrich. Als der Protest im Sommer 2010 seinen Höhepunkt erreicht hatte, habe sich der Oberbürgermeister „in seinem Rathaus versteckt“; später, während der Geißler-Schlichtung, habe er sich auf eine Auslandsreise verabschiedet. So habe es der OB verpasst, den Menschen in Stuttgart und der Region die eigentliche Kernbotschaft zu vermitteln. Trotz aller Mehrkosten lautet diese aus Sicht von Dietrich: „Stuttgart 21 ist ein Projekt für die Bürger.“

Das sieht Gangolf Stocker ganz anders. In der Schlichtung, in Gutachten, Expertisen und schließlich beim Massenprotest auf der Straße und im Schlossgarten „haben wir das Projekt auseinandergepflückt“, sagt der S-21-Protestveteran. Angesichts der neuen Kostenrechnung von bis zu 6,8 Milliarden Euro fühlt sich Stocker bestätigt. Dennoch habe ihn der Oberbürgermeister mit seinem steten Hinweis auf die parlamentarische und juristische Legitimation des Verfahrens geärgert. Vor lauter Paragrafen habe sich Schuster verhalten „wie ein hölzerner Autist, der nicht mitkriegt, was um ihn herum passiert“. Trotzdem sei er nie zum Feindbild geworden. Dafür, sagt Gangolf Stocker, sei der Oberbürgermeister „eine Nummer zu klein“ gewesen.

Schuster ist zu sehr Jurist

Tatsächlich hat sich vor allem nach dem Polizei- und Wasserwerfereinsatz am 30. September 2010 der Zorn der Stuttgart-21-Gegner und auch weiter Teile der bis dahin noch neutralen Bevölkerung gegen den Ministerpräsidenten Stefan Mappus gerichtet. Auch Wolfgang Schuster verband eine herzliche Abneigung mit seinem Parteifreund in der Villa Reitzenstein. Hinter vorgehaltener Hand ließ der OB nie einen Zweifel daran, dass er Mappus weder intellektuell noch persönlich für geeignet hielt, das wichtigste politische Amt im Land zu bekleiden. Im Gegenzug warf Mappus dem Rathauschef vor, er habe es zu verantworten, dass es überhaupt zu so immensen Protesten gekommen war.

Im Nachhinein betrachtet sind sich S-21-Sprecher Dietrich und S-21-Gegner Stocker sogar darin einig, dass Schuster den organisierten Widerstand wirklich hätte schwächen können – wenn er mehr Instinktpolitiker und weniger Fundamentaljurist gewesen wäre. Unter Schusters Führung sei die Stadt noch formalistischer als das Eisenbahn-Bundesamt (Eba) gewesen, sagt Wolfgang Dietrich und wundert sich immer noch darüber, dass ein nistendes Turmfalkenpärchen auf des Oberbürgermeisters Geheiß hin den Abbruch der ehemaligen Bundesbahndirektion verzögert habe.Mit der gleichen Hartnäckigkeit, so Dietrich, habe sich der OB 2007 auch geweigert, 67 000 Unterschriften entgegenzunehmen – allesamt von Menschen, die in Sachen Stuttgart 21 einen Bürgerentscheid erzwingen wollten. „Auch wenn klar war, dass dieser Bürgerentscheid nicht zulässig ist, hätte Schuster die Unterschriften annehmen müssen“, sagt Dietrich heute.

„Schusters Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass es das Projekt noch gibt“

„Wir konnten uns nicht vorstellen, dass er uns diesen Bürgerentscheid verweigern würde“, sagt Gangolf Stocker, der die Unterschriftensammlung vor fünf Jahren initiiert hatte und heute noch knurrt, dass er Schuster „diese gnadenlose Ignoranz übel nimmt“. Denn statt in Ruhe abzuwarten, ob die Gegner tatsächlich die für einen Bürgerentscheid erforderlichen 20 000 Unterschriften beibringen würden, hatte sich der Oberbürgermeister ein paar Tage vor der geplanten Übergabe der Signaturen in die Villa Reitzen-stein begeben, um den Finanzierungsanteil der Stadt an Stuttgart 21 vertraglich zu besiegeln. „Damit“, sagt Stocker, „hat er in zweierlei Hinsicht Fakten geschaffen: die Verträge waren geschlossen und der Protest bekam eine ganz neue Dynamik.“

Bisweilen dauert es freilich eine Weile, bis sich Selbstkritik bei den Betroffenen einstellt. „Wir waren nicht wachsam genug, um zu erkennen, was sich da zusammenbraut“, sagt inzwischen immerhin der Regionalpräsident Thomas Bopp, der nicht nur derselben christdemokratischen Union angehört wie der noch amtierende Stuttgarter Oberbürgermeister, sondern wie dieser einen der vier Projektpartner von S 21 repräsentiert.

Wenn Schuster geht, wird Bopp im Lenkungskreis der Projektpartner der Letzte aus der alten Garde sein, die Stuttgart 21 wollte. „Wir haben unterschätzt, dass manche den Streit um den Bahnhof für ganz andere Ziele missbraucht haben“, sagt Bopp, „und wir haben es versäumt, der Gegner-Kampagne etwas entgegenzusetzen.“ Letzteres wäre aus Bopps Sicht auch die Aufgabe von Wolfgang Schuster gewesen. „Seiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass es Stuttgart 21 überhaupt noch gibt“, sagt Bopp, „aber es ist ihm leider nicht gelungen, das Projekt sympathisch zu machen.“

Die Folgen dieser Ambivalenz sind bis heute spürbar – in der Landeshauptstadt und für Wolfgang Schuster. „Er hat enorm daran zu nagen, dass er in manchen Zeiten einen Leibwächter gebraucht hat, um sich in der Stadt frei zu bewegen“, sagt Schusters Weggefährte Thomas Bopp – und fügt leise hinzu: „Und das, obwohl er ein Oberbürgermeister für alle sein wollte.“