Die Obamania ist längst vorbei. Bei seinem Besuch in Berlin setzt Barack Obama dennoch unbeirrt auf Charme, Pathos und eine Wiederbegegnung mit der deutsch-amerikanischen Geschichte.

Berlin - Für die meisten, die Barack Obama am Brandenburger Tor live erleben dürfen, wirken er und seine Gastgeber, als würden sie in einer Vitrine vorgeführt – ein beinahe museales Erlebnis. Daran ist eine Scheibe schuld, die das Podium schützt. Auf ihr spiegelt sich das grelle Licht dieses Sommertages. Über dem Pariser Platz lastet eine Hitze wie in einer spanischen Stierkampfarena. Die Absperrgitter sind so heiß, dass Brandblasen riskiert, wer sie aus Versehen anfasst. Obama bedankt sich für den „warmen Empfang“ in Berlin und scherzt, er spüre diese Wärme so sehr, dass er gerne sein Jackett ausziehen würde. Gesagt, getan. Hemdsärmelig fügt der Präsident hinzu, so fühle er sich noch mehr wie unter Freunden.

 

Die Szene spielt sich unterhalb der Quadriga ab, die das Brandenburger Tor bewacht – eine Kulisse, die historischer kaum sein könnte. 1987 hatte auf der anderen Seite des Tores ein anderer amerikanischer Präsident gesprochen, Ronald Reagan. Damals trennte noch eine Mauer die Stadt, das Land, den Kontinent und die Welt. Reagan appellierte an die Russen, diese Mauer niederzureißen. Es ist ein später Moment des Triumphes, dass Obama hier sprechen kann – für ihn persönlich und für die freie Welt.

„Der Geist von Berlin“

Sein Auftritt erscheint, als würde er aus einem Museum sprechen. Die Lichtreflexionen an der Glasscheibe unterstreichen das. In Obamas Rücken glänzt die goldene Viktoria auf der Siegessäule im Sonnenlicht. So viel Glanz wie 2008, als Obama dort noch als Wahlkämpfer vor 200 000 Menschen sprach, entfaltet seine erste präsidiale Rede in der deutschen Hauptstadt nicht. Wo seinerzeit sich begeisterte Zuhörer in Massen drängten, patrouillieren jetzt Polizeifahrzeuge. Der Staatsgast redet vor exklusivem Publikum. 4000 Gäste wurden geladen, aber längst nicht alle kamen. Nicht einmal Zaungäste sind zu sehen. Gewöhnliche Berliner bekommen Obama während seiner 25-stündigen Visite nicht zu Gesicht.

Der US-Präsident beschwört den „Geist von Berlin“. Die Stadt und ihre Geschichte umschreibt er wie einen Appell für das Recht auf Freiheit. Aber Obama redet, als laste jener Geist von Berlin wie ein Schatten auf ihm – als seien seine Worte nichts weiter als ein Echo auf die vielen bedeutenden Sätze, die hier schon gesprochen wurden. Den bekanntesten dieser Sätze wiederholt Obama: Es ist jenes legendäre Bekenntnis zu dieser Stadt, das John F. Kennedy vor fast 50 Jahren ausgesprochen hat. Ein Satz der auf ähnliche Weise Geschichte schreiben wird, der im Gedächtnis vieler haften bleibt, gelingt Obama nicht.

8000 Polizisten beschützen Obama

Für ihn hat der Tag mit einer kleinen Anstrengung begonnen. Genau wie für die vielen Berliner und Berufspendler, die versuchen, trotz der Sperren einigermaßen pünktlich zu ihren Arbeitsplätzen zu kommen. Denn wo der mächtigste Mann der Welt sich bewegt, müssen alle anderen weichen oder warten. Während der Präsident im Fitness-Studio des Hotels am Potsdamer Platz seine Übungen macht, wird die Schlange vor den Absperrungen immer länger. Wer hier arbeitet und in die Sicherheitszone will, braucht einen Ausweis und viel Geduld. Das Regierungsviertel ist abgeriegelt. U-Bahn-Eingänge sind versperrt, am Brandenburger Tor fahren die Züge ohne Halt wie zu Mauerzeiten. Spürhunde schnüren die Gehwege der Sicherheitszone entlang. 8000 Polizisten beschützen den Gast. Anwohner müssen die Fenster geschlossen halten, bei der Hitze. Auch zu Bewegungen direkt hinter den Fenstern ist nicht zu raten: Die Polizeianweisung an die Abgeordneten am Pariser Platz klingt angesichts der Scharfschützen auf den Dächern etwas bedrohlich: „Bitte tragen sie dazu bei, dass Missverständnisse für die Sicherheitskräfte vermieden werden.“

Die Stimmung an den Gittern auf der Potsdamer Straße ist angespannt. Polizisten kontrollieren Passanten. „Wat soll det, det kostet hier so viel wie’n Flughafen!“, meckert ein Passant einen Polizisten an, der hier Dienst schiebt. Der hat seinen Clint-Eastwood-Blick in den vergangenen Tagen gründlich geübt. Keine Miene bewegt sich, kein Fältchen zuckt. Keine Antwort. In der Schlange maulen die Wartenden. So geht es den ganzen Tag. Obamania? Hunderttausende Zaungäste? Das war mal.

Obama wird als „Exzellenz“ begrüßt

Jetzt aber wird es gleich schöne Bilder geben. Jeder Schritt eines solchen Besuchs ist minutiös festgehalten, für die Beteiligten steht alles sicherheitshalber in einem kleinen, gebundenen Buch. Um 9.50 Uhr beginnt das offizielle Besuchsprogramm. Die Obamas verlassen das Hotel – First Lady Michelle mit den Töchtern Sasha und Malia wird den Rest des Tages allein verbringen: Geschichtsstunde. Mutter und Töchter besichtigen das Holocaust-Mahnmal, die Mauergedenkstätte, den Reichstag. Obamas Kolonne fährt derweil im Hof von Schloss Bellevue vor. Die Ehrengäste, die zum präsidialen Treffen im Park von Bellevue geladen sind, müssen sich schon früh um sieben zu Sicherheitskontrollen anstellen. Groß ist der Andrang ohnehin nicht. Neben dem diplomatischen und militärischen Empfangskomitee dürfen 29 Schüler der Kennedy-Schule Barak Obama zuwinken.

Bundespräsident Joachim Gauck schreitet vom Schlossportal die Treppe herab und geht Obama entgegen. Die beiden kennen sich bis zu diesem Moment nicht. Es treffen sich zwei charismatische Gestalten, Meister des gesprochenen Wortes, die doch von ihrer Erscheinung und ihren persönlichen Erfahrungen her kaum unterschiedlicher sein könnten: der Pastor aus dem Osten, ein älterer Herr ohne jede Macht, und der immer noch juvenile, bei aller protokollarischen Ernsthaftigkeit entspannt und locker wirkende Staatsgast, mächtigster Mann der Welt. Obama trägt sich ins Gästebuch des Präsidentenpalais ein. Er setzt seinen Namen unter die jener unbekannten Fluthelfer, die Gauck zu Beginn der Woche eingeladen hatte. Um 9.59 Uhr postieren sich die beiden Präsidenten auf einem niederen Podest im Schlosspark. Obama wird als „Exzellenz“ begrüßt. Das Musikkorps der Bundeswehr intoniert die amerikanische Nationalhymne. Obama legt seine rechte Hand aufs Herz, Gauck lächelt und schließt die Augenlider. Ein bewegender Moment.

Die Chemie stimmt

Als die beiden nach dem Verklingen der Hymnen die Ehrenformation der Bundeswehr abschreiten, geht der Gast aus Washington so flott über den roten Teppich, dass der Hausherr kaum hinterher kommt. Sie finden nicht in einen Gleichschritt. Nach einer Viertelstunde ist das offizielle Zeremoniell vorbei. Die Präsidenten treffen sich zu einem Gespräch in Gaucks Amtszimmer. Sie nehmen Platz unter einem Gemälde des barocken Künstlers Bernardo Bellotto, genannt Canaletto. Es zeigt ein Stadtpanorama von Dresden. Dort war Obama während seines ersten Deutschlandbesuchs als Präsident vor vier Jahren. Das Gespräch dauert länger als im Protokoll vorgesehen.

Die Chemie stimmt offenbar so sehr, dass Obama mit 13 Minuten Verspätung im Kanzleramt eintrifft. Angela Merkel im abricotfarbenen Jackett empfängt ihren Gast, wie man eben jemanden empfängt, mit dem man klar kommt, der ein Kollege ist und den man erst gestern gesehen hat: „Hi“, sagt Merkel. Küsschen links, Küsschen rechts, Winken für die Kameras. Wichtigster Programmpunkt hier bei „Angela“: die gemeinsame Pressekonferenz nach einem Gespräch im Kabinettssaal.

Obama als „Mister Charming“

Obama hat sich offenkundig für diesen Auftritt eine große Charmeoffensive vorgenommen: Er winkt nach hier, zwinkert nach da und ist zugleich in eine betont angeregte Plauderei mit seiner Gastgeberin vertieft. Es sei schön, wieder in Berlin zu sein, versichert er, und dass die Vereinigten Staaten die Beziehung mit Europa weiterhin als „Eckstein unserer Freiheit“ sehen. Er nimmt sich fast eine Stunde Zeit, um Fragen zu beantworten, jede seiner Antworten demonstriert, dass er seine Kritiker ernst nimmt. Und als Angela Merkel – die später im Netz für ihren Satz, dass „das Internet für uns alle Neuland ist“ mit Häme überschüttet werden wird – auf Verhältnismäßigkeit für Überwachungsmaßnahmen im Netz pocht, hört der US-Präsident gar nicht mehr auf, verständnisvoll mit dem Kopf zu nicken. Er bleibt zwar bei seiner Linie, dass die Spähprogramme gezielt und demokratisch kontrolliert seien und Leben auch in Deutschland schon gerettet hätten, aber die Position erläutert er geduldig.

Egal ob es um das Gefangenenlager Guantanamo geht, das er noch nicht geschlossen hat, Kriegseinsätze der US-Armee, die Todesstrafe in einigen US-Bundesstaaten, Afghanistan oder die Bewältigung der Finanzkrise – mit einem Image als neuem amerikanischen „bad guy“ will er sich nicht abfinden. Obama hat für diesen Tag die Rolle des „Mister Charming“ gewählt. Zwar bleibt die Kanzlerin, die Hände vor dem apricotfarbenen Blazer zur Raute gefügt, so kühl und distanziert, als handele es sich um einen x-beliebigen Arbeitstermin. Aber Obama wählt Pathos: Auf der Ostseite des Brandenburger Tors zu sprechen sei ihm eine Ehre, betont Obama, und dass der Fall der Mauer eigentlich nur ein Anfang sei. Auch in Zukunft gehe es darum, „gemeinsam zu gewährleisten, weitere Mauern niederzureißen.“

Dort, wo die Mauer niedergerissen wurde, schwitzen die bedeutendsten Herrschaften der Republik. Auch sie sitzen in der prallen Sonne, während Obama spricht. Für einen lohnt sich das Schwitzen an diesem Tag wirklich: „Mr. Steinberg“. Ihn trifft der Präsident nach seiner Rede zu einem persönlichen Gedankenaustausch. Mr. Steinberg? So wurde er auf dem Einladungsschreiben tituliert. Mit bürgerlichem Namen heißt er Steinbrück und ist Kanzlerkandidat der SPD. Als solchem will ihm der US-Präsident aber nicht die Ehre erweisen. Das wäre ein diplomatischer Fauxpas. Der Herr, dem er eine Audienz gewährt, wird als „ehemaliger Bundesfinanzminister“ angesprochen. Den richtigen Namen hat er bis zu dem Treffen gelernt.