Obdachlosigkeit in der Corona-Krise: Im Esslinger Berberdorf und im Aufnahmehaus an der Schlachthausstraße gilt ein Besuchsverbot. Weil ihnen dadurch die oft einzigen Sozialkontakte fehlen, mangelt es manchen Bewohnern an Einsicht.

Region: Andreas Pflüger (eas)

Esslingen - Für gewöhnlich sitzen sie am Esslinger Omnibusbahnhof, in der Maille oder im Merkelpark zusammen. Regelmäßig besuchen sich Obdachlose auch im Aufnahmehaus an der Schlachthausstraße oder im Berberdorf. All diese Treffen sind in der Corona-Krise wegen der Kontaktbeschränkungen nicht möglich. Mehr als zwei Personen dürfen sich auf öffentlichen Plätzen nicht zusammen aufhalten. Im Berberdorf und in der Unterkunft in der Schlachthausstraße herrscht seit Wochen ein für alle Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe behördlich angeordnetes Besuchsverbot.

 

Zu beneiden sind Anja Wessels-Czerwinski von der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (Eva) und ihr Team, die mit ihrer Fachberatungsstelle unter anderem auch für diese beiden Domizile in Esslingen die Verantwortung tragen, um ihren Job zurzeit also nicht. „Das war nach einer gewissen Zeit, in der wir alle das erst einmal irgendwie fassen mussten, ganz, ganz schwer umzusetzen“, erinnert sich die Bereichsleiterin an den Beginn der Pandemie und der Maßnahmen zurück.

Zunächst gab es auf viele Fragen nur wenig Antworten

„Kann noch gearbeitet werden? Gelten wir als systemrelevant? Was bedeutet Corona für unsere Abläufe und für die unserer Bewohner?“ – Auf diese und viele weitere Fragen habe es zunächst nur wenig Antworten gegeben, sagt Wessels-Czerwinski. Ihr sei aber klar geworden, dass es so schnell keine Normalität geben und welche Folgen dies für wohnungslose Menschen haben werde. „Nicht raus zu dürfen, sich nicht treffen zu können, keine Besuche zu bekommen: Das sorgt bei unserer Klientel für die gleichen Probleme wie bei jedem. Oder für noch größere, weil genau das deren Alltag ausmacht“, erklärt sie.

Dementsprechend habe es viel Diskussionsbedarf gegeben. So sei die Frage gestellt worden, was denn ein Haushalt sei, ob dazu eine ganze Etage des Gebäudes in der Schlachthausstraße zähle und ob man sich untereinander besuchen könne, fügt Wessels-Czerwinski hinzu. Viele Bewohner, gerade des Berberdorfes, hätten die Maßnahmen als Gängelung empfunden. Nicht alle hätten sich einsichtig gezeigt, betont sie und spricht davon, „dass wir unsagbares Glück hatten, weil bei uns noch kein Corona-Fall aufgetreten ist“.

Selbstverständlich sei das nicht, ergänzt sie und nennt als Beispiel die Hygieneverordnung. „Die Hütten im Berberdorf sind nicht autark. Sechs bis acht Leute teilen sich einen Sanitärcontainer. Und es gibt eine Gemeinschaftsküche. Wir haben eindringlich darauf hingewiesen, was und wie oft gereinigt werden muss. Schwierig ist es aber trotzdem, das umzusetzen.“

Wegen zweier Baustellen liegen die Nerven eh schon blank

Hinzu kommt, dass ohnehin schon Druck im Kessel herrscht. Auf der Vogelsang- und auf der Pliensaubrücke, zwischen denen das Berberdorf liegt, wird seit gefühlten Ewigkeiten gebaut. Der Baustellenverkehr rollt durch die Ansiedlung. Lärm und Staub sorgen ohnehin dafür, dass die Nerven bei einigen blank liegen. Und jetzt noch die Verbote wegen und die Angst vor dem Virus. „Das ist eine Wahnsinnsbelastung“, weiß Anja Wessels-Czerwinski und findet es „nachvollziehbar, dass da mal einer durchdreht“.

Dulden können die Eva-Leute solche Ausraster dennoch nicht: „Wenn es nicht anders geht, müssen wir im schlimmsten Fall jemanden wegschicken, um die anderen zu schützen“, betont die Bereichsleiterin. Sie sei deshalb um jeden Tag froh, der ohne Zwischenfälle vorübergehe, ergänzt sie. Dass es nun wieder Lockerungen gibt, sieht die Fachfrau dennoch mit gemischten Gefühlen. „Das erleichtert einiges, kann aber auch zu Leichtsinn führen.“

Wessels-Czerwinski appelliert deshalb gerade an Außenstehende, sich nach wie vor an das Besuchsverbot zu halten. „Wir sind auf die Unterstützung angewiesen und nehmen deshalb Spenden, nicht zuletzt von Gesichtsmasken, gerne an.“ Diese sollten aber nicht ins Berberdorf gebracht, sondern in der Fachberatungsstelle in der Fleischmannstraße 26 (Telefon: 07 11/39 69 10 18) abgegeben werden.

Stadt will Unterbringungskapazitäten ausweiten

Auch wegen der Corona-Pandemie arbeitet die Esslinger Stadtverwaltung daran, die Kapazitäten in der Obdachlosenunterbringung auszuweiten. Notwendig ist dies aus Sicht der Verantwortlichen, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern und wegen der Einschränkungen im Zusammenleben.

Einen Bedarf könnte es unter anderem für bestimmte Zielgruppen geben, etwa für Personen aus Risikogruppen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, für Frauen, gegebenenfalls mit ihren Kindern, die aufgrund von häuslicher Gewalt ihre Wohnung verlassen müssen, und natürlich für positiv getestete Covid-19-Patienten aus den Gemeinschaftsunterkünften, in denen Küchen und Sanitärräume gemeinsam genutzt werden.

In ihrem jüngsten digitalen Newsletter hat die Verwaltung im April darauf hingewiesen, dass die möglicherweise erforderlichen Kapazitäten in ihrem Bestand nicht vorhanden sind. Um eine Versorgung gewährleisten zu können, müssten deshalb unter Umständen Hotels und/oder Mikroapartments angemietet werden.

Sozialamtsleiter Osswald: Die Lage bleibt dynamisch

Wie der Esslinger Sozialamtsleiter Marius Osswald erklärt, habe sich allerdings schnell gezeigt, „dass Hotels nur sehr eingeschränkt für die Aufnahme von Personen geeignet sind, die als Kontaktpersonen unter Quarantäne stehen oder positiv auf Covid-19 getestet wurden“. Deshalb habe die Stadt innerhalb ihrer Unterkünfte umverteilt und könne nun zwei kleine Objekte ausschließlich für Personen in Quarantäne oder mit Covid-19 vorhalten.

Für andere Gruppen ist nach Osswalds Worten der Bedarf bislang nicht wie erwartet gestiegen. Noch habe man keine Hotelzimmer anmieten müssen. Die Lage bleibe jedoch dynamisch, so dass die Option nach wie vor bestehe. „Zudem arbeiten wir in Abstimmung mit der Esslinger Wohnungsbau an der Möglichkeit, zeitnah einzelne, kleinere Objekte für einen mittelfristigen Zeitraum anzumieten.“