„Dass nach 16 Jahren nicht alle zufrieden sind, ist normal“, sagt Jürgen Kessing (SPD) – er gewann die Wahl in Bietigheim-Bissingen mit rund elf Prozent Vorsprung. Die CDU glaubt, nur sein Amtsbonus habe Kessing gerettet.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Bietigheim-Bissingen - Wie ist der Sozialdemokrat Jürgen Kessing nach seiner Wiederwahl in die Arbeitswoche gestartet? „Ganz entspannt und zufrieden. Die Arbeit geht weiter, wir haben ein Klausurtagung zur Verkehrsentwicklung auf der Agenda“, sagt der 62-Jährige am Montag. Dass am Sonntag nur wenig mehr als 38 Prozent der Berechtigten (12 974 gültige Stimmen) zur Wahl gegangen sind und davon 43,5 Prozent für seinen Herausforderer votierten, interpretiert Kessing nicht als Dämpfer. „Die Leute an die Wahlurnen zu bekommen, die zufrieden sind, ist immer schwerer“, sagt der alte und neue Bietigheim-Bissinger OB.

 

„Dass nach 16 Jahren nicht alle zufrieden sind, ist normal. Fachlich konnte mir niemand etwas vorwerfen.“ Er räumt aber ein: „Des Gefühls, dass es knapper werden könnte, als man es sich wünscht, konnte ich mich gegen Ende nicht erwehren.“ Kessing bekam 54,7 Prozent der Stimmen.

Jürgen Kessing: „Der Respekt hat rapide nachgelassen“

Überheblich und arrogant komme er zuweilen rüber, nicht nahbar genug: Das hatten ihm seine Gegner im Wahlkampf vorgeworfen. Kessing hält dagegen: Er mache regelmäßig Bürgergespräche in den Stadtteilen, das Feedback sei gut. Wenn er mitunter unwirsch erscheine, sei das manchmal „reine Notwehr“: „Der Respekt vor Menschen in verantwortungsvoller Position hat rapide nachgelassen.“

Stephan Muck sieht sein Wahlergebnis als Auftrag, „die Verwaltung dazu zu zwingen, sich der Dinge anzunehmen, die sie beiseite gewischt hat“. Es gelte das Verkehrsproblem zu lösen, einen Bürgerentscheid zu einer B-27-Umgehung herbeizuführen, mehr Wohnraum zu schaffen und die Stadtteile zu stärken – etwa Bissingen mit einem Kulturzentrum.

Stephan Muck: „Für Herrn Kessing war es eine Klatsche“

In welcher Rolle er das bewerkstelligen will? „Manche sehen mich jetzt automatisch als den Oppositionsführer im Gemeinderat“, sagt der 50-Jährige. Muck sitzt für die Freien Wähler im Gemeinderat. Er selbst müsse sich über seine künftige Rolle erst einmal klar werden, erklärt er, „ich hatte keinen Plan B.“ Dass er den Plan A nicht erreichte, hat er am Tag nach der Wahl schon ganz gut verdaut.

Ich war zwar anfangs ziemlich euphorisch, dass ich es schaffe, aber als die ersten Ergebnisse eingetrudelt sind, war mir bald klar, dass das Ding gelaufen ist“, meint Muck. „Es war wie beim Eishockey-Finale bei Olympia 2018, als Deutschland gegen Russland gespielt hat: Du startest als Außenseiter, bist ganz nah an der Sensation und verlierst dann doch. Aber am nächsten Tag kommt der Stolz, dass du die Silbermedaille geholt hast.“

Er wisse, dass mancher gedacht habe: „Da kommt der kleine Winzer ohne Verwaltungserfahrung, der hat doch keine Chance.“ Auch vor diesem Hintergrund hält Muck sein Ergebnis für mehr als einen Achtungserfolg: Es zeige zudem, dass Mut in einer Demokratie belohnt werde und es sich lohne, Alternativen aufzuzeigen. „Und für Herrn Kessing war es eine Klatsche.“

CDU-Chef Michael Jacobi: „Es gibt viele unzufriedene Bürger“

Die CDU, die sich einer Wahlempfehlung enthalten und keinen Kandidaten aufgestellt hatte, gratuliert Jürgen Kessing zur Wiederwahl und Stephan Muck „zu einem ganz starken Ergebnis“, so der Stadtverbandsvorsitzende Michael Jacobi. „Dieses Ergebnis allerdings sollte auch vom Oberbürgermeister richtig interpretiert werden“, merkt Jacobi an. „Es ist eben nicht die Bestätigung seiner bisherigen Politik, sondern vielmehr zeigen seine lediglich knapp 55 Prozent, dass es viele mit ihm unzufriedene Bürger gibt.“ Die Einschätzung der CDU: „Letztendlich hat ihn der Amtsbonus gerettet.“

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SPD-Fraktionschef Thomas Reusch-Frey hält nicht den Amtsbonus, sondern Kessings Kompetenz für wahlentscheidend. „Dafür, dass ich in persönlichen Gesprächen von vielen Leuten den Eindruck hatte, sie wüssten, wen sie aus Verantwortung heraus wählen müssten, ist das Ergebnis allerdings doch etwas zu wenig deutlich ausgefallen“, findet er. Dennoch: Jürgen Kessing, „den wir ohne Wimpernzucken unterstützt haben“, sei mit über elf Prozent Vorsprung als Sieger hervorgegangen. „Uns freut, dass SPD in Zeiten, in denen es weder die Partei noch Amtsinhaber leicht haben, noch gewinnen kann.“

GAL-Sprecherein Traute Theurer: „Das Ergebnis ist unverständlich“

Die Grün-Alternative Liste, die Kessing unterstützt hatte, hätte sich ein eindeutigeres Wahlergebnis gewünscht. Fraktionsvorsitzende Traute Theurer findet das Ergebnis „eigentlich unverständlich“: „Herr Kessing ist Profi, Verwaltungsfachmann und hat keine großen Fehler gemacht. Die Stadt ist schuldenfrei und in wirklich gutem Zustand“, findet sie. Die GAL schätzt den Wahlausgang ein wie der OB selbst: „Die Zufriedenen konnten leider nicht mobilisiert werden, für die war klar, dass er das Rennen machen wird.“

Stephan Muck habe hingegen die Unzufriedenen abgeholt. „Er konnte mit seiner lockeren, flockigen und kumpelhaften Art, den Menschen nach dem Mund zu reden und Luftballönchen steigen zu lassen. Ich finde es traurig, dass das viel höher bewertet wird als Führungs- und Fachkompetenz“, kommentiert Theurer. Die GAL sei gespannt, was aus diesen „Luftballönchen“ werde. Als Stadtrat könne Muck, der bisher „eher ein Nobody“ gewesen sei, beweisen, wie ernst es ihm sei.

Die Freien Demokraten fanden den engagierten Wahlkampf gut; „Wettbewerb ist ja ein liberales Urprinzip“, sagt Ortsvorsitzender Elmar Schwager. Die FDP gratuliere Jürgen Kessing zur Wahl und Stephan Muck für sein „nicht selbstverständliches“ kommunalpolitisches Engagement.