Eine Reise ins Oberfränkische auf den Wegen des Dichters Jean Paul, der hier vor 250 Jahren geboren wurde.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Joditz - Wo war nur noch gleich“, sagt Eberhardt Schmidt mit einer Pause im Satz, „der Schlüssel?“ Denn Schmidt will mit seinem Besuch geschwind über die Straße. Dass man auch mal in das Joditzer Kirchlein kommt. Allerdings vergisst er, den man sich wie Harry Rowohlt in schlank vorstellen muss, jetzt auch wieder, was er gesucht hat. Er schaut stattdessen in das wenige an Weite unter dem Schneehimmel, das an diesem Punkt des Ortes, gut zehn Kilometer von Hof entfernt, zu sehen ist. Erhabene Ruhe im Übrigen. Dann sagt Schmidt, was er oft sagt, wenn er auf Jean Paul zu sprechen kommt, nämlich: „Jean Paul sagt . . . “ , und es klingt dann wie: „So spricht der Herr  . . .“, aber eben keinesfalls bigott, sondern eher, wie einer heute beiläufig und selbstverständlich fallen lässt: „Auf Spiegel-Online steht . . .“

 

Der Unterschied ist, dass kein Mensch einen Online-Artikel Wort für Wort rekapitulieren wollte, wohl aber Eberhardt Schmidt ganze Seiten draufhat aus dem fast sechzig Bände (Briefe nicht mitgerechnet) zählenden Werk des oberfränkischen Dichters Johann Paul Friedrich Richter, der sich Jean Paul nannte.

Die „Selberlebensbeschreibung“ des Dichters

Aus Vernunftgründen lassen wir an dieser Stelle den ersten Teil des Satzes weg. Aber dann, sagt Eberhardt Schmidt, sage Jean Paul: „. . . die Saale, gleich mir am Fichtelgebirge entsprungen, war mir bis dahin nachgelaufen, so wie sie, als ich später in Hof wohnte, vorher vor dieser Stadt unterwegs vorbeiging.“ Das steht in der „Selberlebensbeschreibung“; Jean Paul hat die entscheidenden Jugendjahre in Joditz verbracht. Schmidt nickt und lächelt, und wenn der Ausdruck nicht so gestrig wäre, könnte dieses Lächeln unter Brüdern und Schwestern glatt als „beseelt“ durchgehen. Von hinten nähert sich Karin Schmidt, seine Frau: Und, ah, da ist er ja, der Schlüssel.

Man finde, sagt der Stuttgarter Germanist Heinz Schlaffer, in Jean Pauls Werke nicht leicht hinein. Wer aber einmal drin gewesen sei, komme umgedreht schwer wieder heraus. Zum Beweis führt Schlaffer an, dass er Jean Pauls „Flegeljahre“ zum siebten oder achten Mal lese. Der Dichter Robert Walser meinte, das Buch sei „die schönste, heiterste Mischung von Weltmännischkeit und dörflichem Idyll“, ja, man könne es nach Japan mitnehmen, kein Problem, es kleinstädtele und großstädtele einfach „lustig durcheinander“. Ungnädig urteilte umgekehrt Nietzsche, der Jean Paul für „ein Verhängnis im Schafrock“ hielt. So ist es geblieben, bis heute. Es gibt nur Liebhaber und Verächter. Dazwischen nicht viel, wie zu zeigen sein wird.

Das Geburtszimmer im Gemeindehaus

Weil man schon aus touristischen Gründen in Oberfranken auf jede Attraktion zum Anlocken von Besuchern angewiesen ist, haben sich die Gemeinden, in denen Jean Paul Spuren hinterlassen hat, jubiläumshalber ins Zeug geworfen. In Wunsiedel, wo er 1763 als Pfarrerssohn geboren wurde, wird am Jean-Paul-Platz am 21. März um 1.30 Uhr sein Geburtszimmer im heutigen evangelischen Gemeindehaus eingeweiht: Man sieht nicht viel, außer einem weiß gelackten Bett, das früher so weiß gelackt nicht gewesen sein wird, aber hinterher ist immerhin Aftermidnight-Party; Wunsiedel kann Derartiges brauchen, auch untertags. Andererseits wird es auch so doch wieder nicht gehen mit der Vermittlung von Jean Paul ans größere Publikum, das er ja mal gehabt hat.

Vor allem die Frauen mochten das Hyperempfindsame

Nicht wenig zum Verdruss solcher Olympier wie Goethe und Schiller, von denen Jean Paul mindestens eine Klassenschranke trennte, mochten ja vor allem die Frauen dieser Zeit Jean Pauls Schriften, aus denen ihnen gleichzeitig etwas Hyperempfindsames wie Überschwängliches entgegenwehte. Und Humor natürlich, Komik en masse. Ob es ein Zufall ist, dass ausgerechnet in Schwarzenbach an der Saale, wo Jean Paul das Schachspielen lernte, jene sagenhafte Dr. Erika Fuchs geboren worden ist, die den amerikanischen Donald-Comics im Deutschen eine vollkommen neue Sprachebene spendierte: versponnen und urkomisch zugleich? Schwarzenbach baut Frau Fuchs momentan ein Museum, wobei sich „Donald in 1000 Nöten“ besser ausstellen lässt als der „Siebenkäs“ oder das „Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen, nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette“.

Eberhardt Schmidt, gelernter Buchhändler, Jahrgang 1945, und seine Frau Karin, ehemalige Grundschullehrerin, sind einen anderen Weg gegangen, als sie Hof in den neunziger Jahren gegen ein verfallenes Gehöft aus dem sechzehnten Jahrhundert in Joditz eintauschten, um sich rings um den Pfarrgarten einzurichten und Jean Paul ein Haus zu bauen: Hier lebt er fort, aber auch nur, weil die Schmidts ihre Erstausgaben und ersteigerten bibliophilen Schätze nicht nur liebe- und fantasievoll unter Glas platziert haben, sondern ihre Besucher an der Hand nehmen – geistig. Dann sagt Eberhard Schmidt, „Jean Paul sagt . . .“, und man weiß sofort, dass man sich das Folgende merken sollte. Wie er selber auf den Dichter gekommen ist? „Immer einem Zitat hinterher“, antwortet Schmidt: „Lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über Sterne . . .“ Und so haben Schmidts das auch gehalten.

Der Dichter verfertigte seine Gedanken im Gehen

Weil Jean Paul selber nie groß zum Stillsitzen aufgelegt war und lieber im Gehen seine Gedanken verfertigte, die er hernach aufschrieb, hefteten sich die Schmidts an seine Fersen und beschilderten den Jean-Paul-Weg zwischen Hof und Joditz: über den Teufelsberg und Unterkotzau, vorbei an Burg Saalenstein und über Fattigsmühle geht die Wanderung, ehe man wieder im Warmen anlangt. Früher war die Demarkationslinie zur DDR nicht weit, was am Ende ein sprechendes Bild ergibt: immer schon, immer noch und immerdar stellt die Literatur Jean Pauls in all ihrer Fantastik einen Grenzfall dar. Mainstream ist etwas anderes. Umgedreht begreifen gerade Kinder, die Schmidt öfter zu Gast hat, besonders gut, was da unter der Oberfläche alles rumort: „Ich möchte Schriftstellerin werden, wie Scho Paul“, heißt es in Schulheften, die Schmidt besitzt. Aber auch Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat sich schon privatim führen lassen. Ob’s in anderen Zusammenhängen der Wahrheitsfindung dient?

Einen seiner größten Fürsprecher hatte Jean Paul im grundgescheiten Theodor Heuss, der eine Einladung zu den Richard-Wagner-Festspielen schön abschlägig mit dem Satz beschied, er komme gern ein andermal „in die Jean-Paul-Stadt Bayreuth“. Natürlich kennt Sven Friedrich die Anekdote, er leitet vor Ort die Museen und Archive der Villa Wahnfried, des Liszt-Hauses und des Jean-Paul-Museums. Bemerkenswert sei, sagt Friedrich, dass er von Jean Paul so gut wie nichts gewusst habe, als er sich auf den Posten bewarb: „Klar, im Studium hatte ich ein bisschen was gelesen. Aber sonst?“ Dass der Dichter neben zwei Komponisten mit im Paket war, wusste er nicht. „Aber ich konnte nicht gut sagen: ,Wagner ja, Jean Paul nein.‘“

„Jean Paul lesen ist wie Oasen-Springen“

Selbstverständlich hat Friedrich später ein paar Hausaufgaben nachgeholt, findet aber auch heute, dass „Jean Paul lesen wie Oasen-springen“ sei. Manchmal komme „einfach dreißig Seiten nichts oder Abseitiges. Selbstgespräche.“ Seinethalben postmodern oder auch wieder modern – „der Autor schreibt sich durch das Werk hindurch“ –, aber eigentlich nicht sein Fall, sagt Friedrich. Das ist dann im Gespräch ein seltsamer Moment, weil Friedrich am Donnerstag eine neu konzipierte Ausstellung in Bayreuth eröffnen wird, wo Jean Paul von 1804 bis zu seinem Tod 1825 lebte. Derweil ist die Villa Wahnfried ausgerechnet in diesem doppelten Jubiläumsjahr (Wagner wurde 1813 geboren) wegen einer Totalsanierung unzugänglich.

Vitrinen in Bücherform, nicht zu viel Biografisches

Friedrich ist komplett gegen die meisten „Jean Paul ist unser“-Kampagnen eingestellt. Da hätten die „Marketingsfuzzis“, sagt er, nichts Besseres im Kopf, als den Dreiklang auf den „Frauenliebling, Biertrinker und Heimatdichter“ scheppern zu lassen. „Das haben, wenn man bös ist, aber ich bin ja nicht bös“, setzt er fort, „die Nazis auch schon getan.“ Auch deswegen fällt die Ausstellung betont nüchtern aus: Hochvitrinen in Bücherform, nicht zu viel Biografisches: „Wir machen’s haptischer“, meint Friedrich. „Kurze Sätze. Schülerkompatibel. Und backen kleine Brötchen.“ Lesen, sagt der Museumschef beim Rausgehen, sei ja „eine aussterbende Kulturtechnik“.

Obwohl.

Wenn dann der Mond, die „Silberküste einer anderen Welt“, wie Jean Paul schreibt, aufgegangen ist, dann schaut alles anders aus. Jenseits von Bayreuth, vor Bücherwänden und in Karin und Eberhardt Schmidts Wohlfühlwohnstube. „Geistiges Nestmachen“, nannte Jean Paul das und meinte, obwohl durchaus ein Freund von Gemütlichkeit, eben nicht ein mentales Erstarren in Hausschlappen.

Eberhard Schmidt hat eine Musik aufgelegt, die nahelegt, dass da noch Begegnungen stattfinden, von denen mancher Kulturpessimist nichts weiß. Als Abschlussseminararbeit vor dem Abitur nämlich ist zum Beispiel Emelie Walther am Hofer Gymnasium den Jean-Paul-Weg von Joditz aus musikalisch angegangen, als Wandersfrau souverän ausschreitend in As-Dur. Und die Oboe ist immer die Saale. Gesetzt hat sie die Komposition für Klavier, zwei Violinen, Cello und Bläser, und während man so dasitzt und zuhört, fängt das Stück an zu fliegen wie Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo weiland von Leipzig aus – und erhebt sich, wie im „Seebuch“ über das „blankgescheuerte Blei der polierten Alltäglichkeit“. So hoch hinaus aus der Stube sternewärts also kommt man mit einem Buch von Jean Paul.