Es gibt nicht so viele private Aktienanleger, die ein Verlust von gut 100 000 Euro kalt lässt. Der Wirecard-Skandal hat aber etliche solcher Schicksale hervorgebracht. Vier von ihnen wurden am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart verhandelt. Geklagt hatten Anleger, die Verluste zwischen rund 5000 Euro und knapp 175 000 Euro erlitten hatten. Dennoch steht für sie derzeit weniger der betrügerische Finanzdienstleister am Pranger, sondern die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), die aus ihrer Amtshaftung heraus einen Schadenersatz leisten soll.
Insgesamt 850 Wirecard-Aktien besessen
Einer der Leidtragenden ist Walter P. (Name geändert). Der Inhaber eines kleinen Metallhandel-Unternehmens im Rems-Murr-Kreis hatte im März 2015 seine ersten 100 Wirecard-Aktien für 4060 Euro gekauft, am 13. Februar 2020 weitere 500 für 72 679 Euro und am 11. Mai 2020 noch einmal 250 Stück für 24 477 Euro. Da hatten die Hiobsbotschaften zu Wirecard längst die Runde gemacht und der Absturz stand kurz bevor. Nach Berichten, wonach Geschäfte, die einen großen Teil des Gesamtumsatzes ausmachten, tatsächlich nicht existierten, sackte der Aktienkurs am 18. Juni 2020 von gut 105 Euro auf unter 20 Euro ab; bis Ende Juni ging es weiter abwärts auf unter zwei Euro. Am 25. Juni beantragte die Wirecard AG das Insolvenzverfahren. Zuvor hatte auch Walter P. seine Aktien „für einen Apfel und ein Ei“, ungefähr 500 Euro, verkauft – allein um einen Nachweis des Verlustes zu haben. „Ich habe ungefähr 100 000 Euro verbrannt, die mehr oder weniger für meine Rente gedacht waren“, bilanziert er.
Leerverkaufsverbot im Zentrum der Auseinandersetzung
Doch noch glimmt etwas Hoffnung bei den Anlegern, etwas Geld zurück zu bekommen. Denn nach einer Berichterstattung der „Financial Times“ vom 30. Januar 2019 über Buchführungsmanipulationen bei einer Wirecard-Tochter in Singapur war der Aktienkurs schon bis Mitte Februar des Jahres um rund 40 Prozent gefallen. Daraufhin erließ die Bafin „wegen einer Bedrohung des Marktvertrauens“ am 18. Februar eine Allgemeinverfügung mit einem bis zum 18. April 2019 befristeten Leerverkaufsverbot – um einen durch sogenannte Leerverkäufe verursachten weiteren Kursrückgang zu verhindern. Gemeint sind Verkäufe von Wertpapieren, die sich noch nicht im Besitz des Verkäufers befinden – hier mit der Spekulation auf einen fallenden Kurs.
Die einzigartige Aktion der Bafin sowie ihre spätere Strafanzeige gegen die Journalisten der „Financial Times“ hat für Walter P. signalisiert: „An den negativen Berichten ist nichts dran, es ist alles in Ordnung; die Anleger können dabei bleiben und werden geschützt – diesem Trugschluss bin ich auch erlegen.“ Ähnlich heißt es von einem anderen Kläger, das Leerverkaufsverbot sei die „entscheidende Beruhigung gewesen, am Ball zu bleiben“. Kurzum, ohne das Verbot wäre der Kurs im Frühjahr 2019 weiter gefallen. Dann aber hätten die Kläger die Aktien entweder nicht mehr gekauft oder rechtzeitig verkauft. Daher müsse die Bafin die seither erlittenen Verluste ersetzen.
Kritische Fragen an die Anleger
Während die Bafin-Vertreter in den vier teils sehr kurzen Verhandlungen nicht einen Satz zur Sache äußern müssen, hakt das Gericht überaus kritisch nach, was die Betroffenen damals von all den brisanten Vorgängen mitbekommen und verstanden hätten. Da zeigt sich, mit wie viel Leichtfertigkeit vielfach risikoreiche Börsengeschäfte getätigt werden. Er habe „keine Ahnung“ gehabt, sagt ein Kläger, aber angesichts der „Aufsicht“ durch die Bafin „hatte ich das Vertrauen, auf der sicheren Seite zu sein“. Man müsse sich „doch darauf verlassen können, dass man nicht betrogen wird“. Er selbst sei sich„keiner Schuld bewusst“.
Das Landgericht Stuttgart hatte die Klage von Walter P. abgewiesen. Weil seine Rechtsschutzversicherung nicht für das Berufungsverfahren aufkommen wollte, ist er nicht in die zweite Instanz gegangen. So läuft es vielfach: Von 300 Verfahren bundesweit, die der Passauer Rechtsanwalt Sven Galla anfänglich vertreten hat, sind noch etwa 120 in der ersten und zweiten Instanz anhängig.
Verkündung der Entscheidungen am 18. Dezember
Gallas Ziel ist eine Gerichtsentscheidung, wonach „sich die Bafin bewusst außerhalb ihrer Befugnisse bewegt hat, und dass bei einem solchen Amtsmissbrauch auch das Haftungsprivileg nicht greift“. Gemeint ist die gesetzliche Vorgabe, dass die Bafin für einfache Amtspflichtverletzungen nicht haftet, weil sie ihre Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt. Zudem ist da noch die Frage, ob das Leerverkaufsverbot ursächlich war für den später entstandenen Schaden der Anleger. Aus Gallas Sicht könnte das OLG die Klagen speziell an diesem Punkt scheitern lassen. „Andernfalls müsste es das Ganze dem Europäischen Gerichtshof vorlegen, und das will man tunlichst vermeiden.“ Keine große Rolle spielt für ihn der Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10. Januar 2024, wonach die Bafin nicht haften muss – er verfolge einen anderen Ansatz.
Das OLG will seine Entscheidungen in den vier Fällen am 18. Dezember verkünden. Galla hofft, dass ihm seinerseits noch die Revision zum BGH ermöglicht wird.