Düster ist’s, und auf der Bühne singt ein Hüne über tote Discotänzer. Trotzdem erinnert der Sonntagabend mit O.Children im Stuttgarter Keller Klub stellenweise an ein Proberaumkonzert. Da kommt schon mal fast spontan eine dritte Band auf die Bühne.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Die Selektion, die am Samstag in der Stuttgarter Zeitung porträtiert wurden, haben mehr Shows außerhalb als innerhalb Deutschlands gespielt. Anderswo fährt man auf den Sound des Stuttgarter Duos jedenfalls ab: Electronic Body Music (EBM), vielleicht auch der damit verwandte Techno, gemischt mit Trompetensounds – das klingt düster und aggressiv.

 

Dass es Stuttgart nicht ganz so gut meint mit seinem Eigengewächs, zeigt sich auch am Sonntag. Da ist Die Selektion als Vorband für die Band O.Children angekündigt. Die darf sie auch geben, aber bereits um 20.30 Uhr, weil O.Children ihren Toursupport Scarlet Soho mitgebracht haben – vorab angekündigt war das (so gut wie) nicht. Dass am Sonntag um halb neun kaum jemand im Keller Klub steht, um ein Konzert zu hören, wissen nachher alle und vielleicht wussten sie es auch schon davor. Die Selektion jedenfalls erzählen, dass selbst einige ihrer Kumpels den Auftritt verpasst hätten.

Künftig wieder zu dritt

Das ist besonders schade, denn es war die vorerst letzte Gelegenheit, Die Selektion zu zweit zu erleben. Der in der Schweiz lebende Samuel Savenberg stößt künftig dazu, um den Bass zu bedienen und Elektronik-Spielereien zu liefern; insgesamt wolle man weg vom Bum-Tschak der aktuellen, auf 999 Exemplare limitierten CD „Die Selektion“. Weg also auch von EBM, hin zu mehr Electro, Synthesizern, „intelligenterer Musik“, wie die Band nach dem Konzert erklärt. Einiges davon spielen Die Selektion im Keller Klub bereits an. Man darf gespannt sein, für März ist schon ein Gig im Komma im Esslingen angekündigt.

Der Sonntagabend wird also zur Wundertüte. Dass Die Selektion mit ihrem (inzwischen also nicht mehr ganz aktuellen) düsteren Dance-Sound eine gute Vorband für O.Children wären, glaubt man gern. Warum die Tourorganisatoren auf Scarlet Soho als zweiter Band dieses Minifestivals bestanden, bleibt jedoch schleierhaft.

Scarlet Soho klingen wie Hurts und Tiga

Was sicher nicht an dem New-Wave-Trio aus England liegt. Bei Scarlet Soho kommen das Schlagzeug und ein paar Soundflächen aus dem (eigenhändig auf der Bühne bedienten) CD-Player. Dazu ein schneidender Bass von der namensgebenden Scarlet und der Gesang von James Knights, der in seiner Elegie an die Chartstürmer von Hurts und rein vom Äußeren her auch ein wenig an Tiga erinnert, den in den Achtzigern nachhaltig musiksozialisierten kanadischen Techno-DJ.

„Viele fühlen sich hier sehr wohl. Sie gehen zur Schule, zur Uni, verlieben sich, machen Kinder, kaufen ein Haus und sterben. Es ist eine unendliche Geschichte. Für Kulturschaffende ist es in Stuttgart schwer, weil es keine Szene gibt“, sagte Max, der Die Selektion im September verlassen hat, zum Hipster-Magazin Vice. Die Szene? Das Publikum ist am Sonntagabend, nun ja, fragmentiert. Sanft gestylte Goth-Anhänger stehen neben würdevoll gealterten Menschen in schwarzen Plateaustiefeln, eine Besucherin könnte direkt aus einem Falco-Video in den Keller Klub gebeamt worden sein, wieder andere kommen einfach, wie sie sind. Das ist keineswegs, wie von Ex-Selektion-Mitglied Max umschrieben, „ein Haufen von Verrückten, Schwulen, Gothics und unschuldigen Schulmädchen“. Sondern ein recht bunter Sonntagabend-Mix im bekannt düsteren Keller-Klub-Ambiente.

O.Children klingen wie ein Proberaumgig von Bloc Party

Das beschriebene Potpourri wird von der Hauptband noch bunter gemacht: O.Children laufen rum wie eine klassische Indie-Combo – Karohemden, Röhrenjeans mit umgeklappten Hosenbeinen, alte Sneaker – und haben eine geschätzt 2,10 Meter großen, farbigen Sänger. Der 2012 reichlich gehypte Hüne Tobias O’Kandi ist mit seinem typisch schwarzen Timbre in der Stimme live aber leider schon das einzige Alleinstellungsmerkmal.

Ihre Single „Dead Disco Dancer“ und auch das Album Apnea verbinden hinreichend originell psychedelische Sechziger-Sounds, wie man sie unter anderem von The Coral kennt, mit dem charmanten Gesang von O’Kandi. Live erinnert das Ganze aber eher an ein frühes Proberaumkonzert von Bloc Party. O.Children sparen mit den großen Melodiebögen, Sänger O’Kandi nuschelt ständig irgendwas ins Mikro und formt seine riesigen Hände ungefähr zehnmal zur Pistole. Peng, Dead Disco Dancer! So richtig knallt das es aber erst am Ende der Show, als O.Children ein wenig auftauen.

Death Disco

Vom Dead Disco Dancer ist es nicht weit bis zur Death Disco. In Europa und Nordamerika gibt es nach dem Post-Punk-Song der Band Public Image benannte Partys, auf denen zu düsterer Electro- und New-Wave-Musik getanzt wird. Die Selektion sind auf einem in Berlin erschienenen Death-Disco-Sampler vertreten und auch die O.Children-Single würde sich auf der nächsten Ausgabe gut machen.

Dies alles sind freilich Nachwehen eines musikalischen Solitärs: „Love Will Tear Us Apart“ steht im Werk der Band Joy Division weitgehend ohne Vergleich; der Song wurde kurz vor dem Selbstmord von Sänger Ian Curtis aufgenommen. Er ist bis heute stilprägend und vielleicht die einzige Gemeinsamkeit der drei so unterschiedliche Bands Die Selektion, Scarlet Soho und O Children.

„Love Will Tear Us Apart“ wird an dem Abend gar nicht gespielt. Doch als unmittelbar nach dem letzten Song von O.Children grell das Licht angeht – keine Zugabe –, ist klar, in wie viele musikalischen Richtungen dieser Song aktuell hineinwirkt. Und dass diese Genres nicht zwingend zusammenpassen.