Löwen, Wölfe und andere Jäger beeinflussen nicht nur ihre unmittelbare Umwelt. Die Schwankung ihrer Population hat auch Auswirkungen auf das Klima.

Wenn die Löwen und Leoparden aus manchen Regionen Westafrikas verschwinden, dann schwänzen bald darauf viele Kinder die Schule. Zwischen diesen beiden Entwicklungen existiert ein verblüffender Zusammenhang: Bei den großen Raubtieren stehen nämlich öfters Anubispaviane auf dem Speiseplan. Gibt es weniger Löwen und Leoparden, wachsen die Herden der bis zu 25 Kilogramm schweren Affen daher rasch an. Dann plündern die Paviane die Felder der Bauern und holen sich haufenweise Hühner und andere Tiere. Statt in die Schule zu gehen, müssen die Kinder häufig Felder und Haustiere bewachen.

 

Aber nicht nur im Westen Afrikas, sondern fast überall auf der Erde beeinflussen Raubtiere wie Bären und Wölfe, Luchse und sogar weniger räuberische Fleischfresser wie Seeotter ihre Umwelt sehr stark. Das berichten jetzt William Ripple von der Oregon State University im US-amerikanischen Corvallis und seine Kollegen in der Fachzeitschrift „Science“.

Nicht nur die Beutepopulation schwankt

Dort schildern die Forscher etliche komplizierte Zusammenhänge, bei denen jeweils die großen Beutegreifer die Fäden ziehen. Als in verschiedenen Regionen Nordamerikas und Eurasiens zum Beispiel die Wölfe erheblich dezimiert oder sogar ausgerottet wurden, ästen dort im Durchschnitt fast sechsmal mehr Hirsche als vorher, schreiben die Wildbiologen. Als die Rudel der grauen Räuber dann zum Beispiel 1995 wieder in den Yellowstone Nationalpark zurückkehrten, jagten sie viele Hirsche und dezimierten deren Zahl wieder. Weil diese großen Pflanzenfresser aber haufenweise Blätter, Nadeln und Knospen von Bäumen verschlingen, verändert dieses Auf und Ab ihres Bestandes die Vegetation erheblich.

Ganz ähnlich beeinflussen in Europa Luchse ihre Umwelt, erklärt der Wildbiologe Volker Zahner von der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf im bayerischen Freising: „Schleichen die großen Katzen durch die Region, grasen Gämsen und ihr Nachwuchs im Gebirge meist nahe an den Felsklippen, auf denen sie nach einem Sprung vor Angreifern mit Pinselohren sicher sind.“ Dort ist aber die Vegetation dürftiger, die Milch der Weibchen wird magerer, der Nachwuchs wird daher schlechter versorgt, seine Chancen sinken. Am Ende gibt es dann weniger Gämsen.

Eine Landschaft der Angst

Die gleichen Zusammenhänge beobachten Forscher im Nationalpark Bayerischer Wald. Seit dort Luchse wieder den Rehen auflauern, besuchen diese seltener die Futterstellen. Schließlich lernen die großen Katzen rasch, dass sie an diesen Plätzen leicht Beute machen können. Also ziehen sich die Rehe in den Wald zurück und darben. „Selbst meine Hühner zu Hause gehen kaum noch raus, wenn sie Tage vorher am Himmel einen Habicht erspäht haben“, schildert Volker Zahner ein weiteres Beispiel einer solchen „Landschaft der Angst“.

Im Dickicht finden Rehe und Gämsen, aber auch Elche, Rotwild und andere von großen Beutegreifern gefährdete Tiere weniger Nahrung und bekommen daher weniger Kälber – ihr Bestand sinkt also. Aber nicht nur die abnehmende Zahl grasender Mäuler verändert die Pflanzenwelt, sondern auch das veränderte Verhalten der Tiere. „Die großen Pflanzenfresser wagen sich dann nicht mehr in die Mitte einer Lichtung, sondern bleiben in der Nähe des Waldrandes, in den sie schnell fliehen können“, erklärt Zahner. Unter diesen Umständen haben keimende Büsche und Bäumchen in der Mitte einer Wiese wieder eine Chance, weil ihre oberste Triebknospe zwar rasch aus der Reichweite von Hasenzähnen heraus wächst, nicht aber aus der von vorsichtigen Hirschfamilien.

Räuber sorgen für mehr Vielfalt

Die Landschaft wird damit vielfältiger, davon profitieren wiederum andere Tiere wie zum Beispiel Füchse und Dachse: „Als ich neulich eine Fuchsspur verfolgte, führte diese immer nahe an Büschen und anderer Deckung entlang“, schildert Volker Zahner das Verhalten kleinerer Raubtiere. Tarnung gelingt natürlich auf einer Wiese mit einer Buschgruppe in der Mitte besser. Die kleinen Raubtiere profitieren bisweilen aber auch direkt von ihren großen Kollegen. So holt sich ein Fuchs manchmal den Kopf eines Rehs, das von einem Luchs gerissen wurde, und knabbert in seinem Bau an dieser leichten Beute.

„Allerdings nehmen Füchse und Dachse solche Leckerbissen nur als Take-away-Snack mit, weil sie bei einem Schlemmermahl am Riss zu viel Angst vor der Rückkehr des Luchses hätten“, berichtet Volker Zahner. Die großen Katzen greifen manchmal nämlich Füchse gezielt an, um sie als Konkurrenten um die Beute auszuschalten. Als der Luchs nach Finnland zurückkehrte, passierte genau das, und die Zahl der Füchse nahm in den dortigen Wäldern erheblich ab, schreiben dann auch William Ripple und seine Kollegen in „Science“. Das aber verbesserte wiederum die Chancen von Auer- und Haselhühnern, die vorher von den Füchsen dezimiert wurden.

Auch Vögel profitieren von den großen Raubtieren. „Während ein Fuchs die Reste einer größeren Beute unerreichbar für die Schnäbel vergräbt, verstecken Bären und Luchse sie nur unter Laub und Ästen“, erklärt Volker Zahner. Dort tauchen dann rasch Kohl- und Blaumeisen, Tannen- und Haubenmeisen sowie eine Reihe anderer Vögel bis hin zu Staren und Amseln auf und bedienen sich an der Beute. Da Luchse im tiefen Schnee besonders gut jagen und Bären am Ende des Winters mangels Alternativen oft auf Fleischkost umsteigen, bescheren sie den kleinen Vögeln genau dann ein Festmahl, wenn sie es am meisten brauchen: Bei tiefem Schnee finden Meisen kaum noch Fressbares, und am Ende des Winters benötigen die Vögel viel Energie, um mit dem Brutgeschäft zu beginnen.

Die Tangwälder speichern Kohlenstoff

Ähnliche weit reichende Einflüsse auf ihre Umwelt haben in Nordamerika die Pumas und in Australien der Wildhund Dingo, berichten William Ripple und seine Kollegen. Besonders eindrucksvoll aber ist das Zusammenspiel zwischen den Seeottern in den Küstengewässern im Norden des Pazifiks und ihrer Umwelt. Bei ihnen stehen häufig Seeigel auf dem Speiseplan. Als Pelzjäger die bis zu 40 Kilogramm schweren Otter im 18. und 19. Jahrhundert fast ausrotteten, boomten daher die vegetarisch lebenden Seeigel. Diese aber fraßen bald die Tangwälder in den Küstengewässern kahl. Damit verschwand nicht nur die Heimat etlicher Arten, auch die Schutzfunktion als Wellenbrecher ging verloren. Tangwälder bremsen nämlich die Strömungen.

Erst seit die Seeotter konsequent geschützt werden, wachsen auch die Tangwälder wieder. Allein entlang der nordamerikanischen Küste speichert diese zusätzliche Wasservegetation zwischen 4,4 und 8,7 Millionen Tonnen Kohlenstoff, der sonst als Treibhausgas Kohlendioxid das Klima anheizen würde. Im Emissionshandel der Europäischen Union wäre diese Menge des Treibhausgases zwischen 200 und 400 Millionen US-Dollar wert, rechnen William Ripple und seine Kollegen aus. Und sollten in Zukunft Löwen und Leoparden in die vielen Regionen Westafrikas zurückkehren, die heute weitgehend frei von großen Raubtieren sind, dann könnte dies dort die Quote der Schulschwänzer senken, die zu Hause die Felder und Herden vor überbordenden Pavianhorden schützen – wobei auch hier der volkswirtschaftliche Wert sicher ebenfalls enorm wäre.