Nach Kritik durch den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert wehrt sich der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz gegen die Erwartung, Patentrezepte liefern zu können.
Stuttgart - Der Streit um die Haltung führender Wirtschaftswissenschaftler in der Staatsschuldenkrise geht weiter. Wolfgang Franz, Vorsitzender des Sachverständigenrates („Rat der Weisen“), weist die Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert zurück, der in einem Interview die Uneinigkeit der Zunft beklagt hatte: Es gebe zu keiner einzigen relevanten Frage eine gemeinsame Expertenmeinung. Lammert: „Würden sich darauf politische Entscheidungsinstanzen verlassen wollen, würden sie damit ihre Entscheidungsunfähigkeit zu Protokoll geben.“ Franz sagte der Stuttgarter Zeitung: „Ökonomen sind nun einmal unterschiedlicher Meinung. Das ist im Übrigen in der gesamten Welt der Wissenschaft so.“ Dass die Politik handlungsunfähig zu werden drohe, sei „eindeutig falsch“. Franz: „Natürlich muss letztlich immer die Politik entscheiden. Es gibt viele Vorschläge für den Umgang mit der Krise, und alle sind sehr teuer. Die Risiken sind sehr schwer einzuschätzen. Da ist es kein Wunder, dass die Risikoeinschätzungen unterschiedlich ausfallen.“
Lammert hatte im Interview mit dem Südwestrundfunk (SWR) geklagt, dass die Experten in der Krise nicht hilfreich gewesen seien: „Von allen denkbaren Verfahren in der Bewältigung dieser Krise in den vergangenen Monaten ist das am wenigsten taugliche die Umsetzung von Expertenempfehlungen gewesen.“ Lammert spielte mit seinen Äußerungen auf den Streit führender Ökonomen um die Beschlüsse auf dem EU-Gipfel am 28./29. Juni an. Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts, hatte zusammen mit etwa 160 weiteren Ökonomen in einem offenen Brief („Liebe Mitbürger, . . .“) vor einer Bankenunion gewarnt, die eine „kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems“ bedeute. Andere Ökonomen, darunter auch Wolfgang Franz, wiesen das zurück. Begründung: Solch eine Bankenunion sei gar nicht beschlossen worden.
„Rat der Weisen“ bietet Alternative an
Nach Ansicht des Vorsitzenden des Sachverständigenrats lehnt die Bundesregierung zu Recht die Finanzierung der Staatsschulden durch die Europäische Zentralbank (EZB) und Eurobonds ab. Der „Rat der Weisen“ bietet eine Alternative an, den Schuldentilgungsfonds in Verbindung mit dem Fiskalpakt und – zu einem späteren Zeitpunkt – einer Insolvenzordnung für Staaten. Dieses Modell hatten die Wissenschaftler im Herbst 2011 vorgestellt. Jetzt haben sie es in dem Sondergutachten „Nach dem EU-Gipfel: Zeit für langfristige Lösungen nutzen“ weiterentwickelt.
Das Sondergutachten ist am späten Freitagnachmittag ohne Vorankündigung veröffentlicht worden und fand deshalb eher geringe Medienresonanz. Sachverständigenrat und Bundeswirtschaftsministerium müssen die Veröffentlichung abstimmen. Das Gutachten lag seit Donnerstag vor, das Ministerium brauchte aber für seine Zustimmung ungewöhnlich lange Zeit. Franz: „Wir sind über den Zeitpunkt der Veröffentlichung alles andere als glücklich gewesen. Aber das hängt nun einmal mit dem vorgeschriebenen Abstimmungsprozedere zusammen. Uns war wichtig, dass das Gutachten noch vor der Sitzung der EU-Finanzminister am Montag veröffentlicht wird, um hier eine Hilfestellung zu geben.“
Das Bundesfinanzministerium teilte noch am Freitagabend mit, Minister Wolfgang Schäuble nehme das Gutachten „zur Kenntnis“. Zum Thema Fonds heißt es lapidar: „Bereits früher geäußerte Bedenken hinsichtlich der Themen Fehlanreize, Haftung ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik und auch Machbarkeit bestehen fort.“
Rechtsgutachten soll demnächst vorliegen
Der Sachverständigenrat glaubt, dass die rechtlichen Bedenken der Bundesregierung ausgeräumt werden können. Hierzu haben die „Weisen“ ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das nach Angaben von Franz in zwei bis drei Wochen vorliegen wird. Der Tilgungsfonds sieht im Kern vor, dass die Länder der Eurozone ihre Schulden, soweit sie den Stand nach den Maastricht-Kriterien von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung übertreffen, in einen gemeinsamen Fonds einbringen.
Nach früheren Berechnungen würde dieser Fonds ein Volumen von 2,3 Billionen Euro haben. Auf Italien würden 950 Milliarden Euro entfallen, auf Deutschland 580 Milliarden Euro, Frankreich 500 Milliarden Euro, Belgien 140 Milliarden Euro, Spanien 90 Milliarden Euro, Österreich 40 Milliarden Euro und auf die Niederlande 25 Milliarden Euro. Griechenland, Portugal und Irland, die bereits Mittel des Rettungsfonds in Anspruch nehmen, dürften ihre Schulden erst auslagern, wenn die verordneten Anpassungsprogramme mit Erfolg durchgeführt wurden. Für die Schulden in dem Fonds würden die Euroländer gemeinschaftlich haften, jedes Land wäre aber verpflichtet seine eigenen Schulden innerhalb von 25 Jahren zu tilgen.