Mehr als vier Millionen Haushalte in ganz Deutschland beziehen grünen Strom. Zur Energiewende tragen sie damit allerdings wenig bei.
Stuttgart - Immer mehr Konsumenten wollen auch beim Stromverbrauchen Gutes tun und wählen einen Ökotarif. Ende vergangenen Jahres zählte das Fachblatt „Energie & Management“ (E&M) in seiner jährlichen Umfrage fast vier Millionen Privathaushalte und rund 186 000 gewerbliche Abnehmer, die mit Ökostrom beliefert werden. Binnen eines Jahres haben die Grünstromer mehr als eine Million Neukunden gewonnen – ein Plus von rund 30 Prozent. Mittlerweile habe der Schwung etwas nachgelassen, meint E&M-Chefreporter Ralf Köpke. Trotzdem dürfte die Zahl der Ökostromabnehmer seit Dezember 2011 weiter gestiegen sein.
Wer sich für einen Ökotarif entscheidet, hat die Erwartung, dass er durch sein Nachfrageverhalten zum schnelleren Ausbau der Stromerzeugung in sauberen Kraftwerken beiträgt. Um an einen solchen Tarif zu kommen, ist kein großer Aufwand nötig. Die einschlägigen Internetportale spucken lange Listen von Ökostromtarifen aus, bei denen die Kilowattstunde in vielen Fällen sogar weniger kostet als in den Grundversorgungstarifen konventioneller Lieferanten. Dann muss man nur noch einen günstigen Tarif auswählen, auf Papier oder online seine Daten angeben – und schon geht es mit der Energiewende noch schneller voran.
Minimaler Umweltnutzen
Wenn es denn so einfach wäre. Aber Ökostrom ist nicht gleich Ökostrom. Da der Begriff nicht geschützt ist, gibt es keine einheitlichen Richtlinien für solche Tarife. Dem begegnen einige Anbieter mit Qualitätssiegeln, die etwa den Nachweis verlangen, dass ein Teil des Stroms nicht aus bestehenden, sondern aus neu gebauten Anlagen kommt. Doch auch in diesen Fällen seien Zweifel am ökologischen Wert der Ökotarife angebracht, meint Uwe Leprich. „Der Umweltnutzen der Ökostromangebote ist minimal“, sagt der Wirtschaftsprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und Autor einer Ökostromstudie für Greenpeace.
Leprich verweist darauf, dass die Produktion sauberen Stroms hierzulande bereits durch die garantierten Einspeisevergütungen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) gefördert wird – und das mit großem Erfolg: Mittlerweile stammt rund ein Viertel des Stroms in Deutschland aus regenerativen Quellen. Gemessen daran könnten die Ökotarife sowohl kurz- als auch mittelfristig nur einen „quantitativ nachgeordneten“ Beitrag zum Klimaschutz leisten (siehe Infokasten). „Von der Makroebene aus betrachtet, ist ein zweites Instrument neben dem EEG nicht erforderlich“, resümiert der Ökonom.
Der Großteil des grünen Stroms stammt aus Norwegen
Ähnlich äußert sich Udo Sieverding. „Treiber für den Ausbau ist das EEG und nicht der freiwillige Ökostrommarkt“, sagt der Energieexperte der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Das ist insofern bemerkenswert, als Sieverding im Vorstand der Organisation sitzt, die für die Vergabe des weit verbreiteten Ökostromzertifikats „ok-power“ verantwortlich ist. Träger des Vereins Energievision sind neben der Verbraucherzentrale das Öko-Institut und der WWF.
Auf der ok-power-Internetseite findet sich eine Liste zertifizierter Anbieter. Dort lässt sich für jeden Tarif nachlesen, woher der Strom stammt: zumeist aus norwegischen Wasserkraftwerken. Die Skandinavier erzeugen fast den gesamten Strom aus Wasserkraft. Vereinzelt finden sich auch Lieferanten aus anderen wasserkraftreichen Ländern wie Österreich oder der Schweiz. Nur ein kleiner Teil des verkauften Ökostroms stammt aus inländischen Anlagen. Statt der deutschen Energiewende mehr Schub zu verleihen, fördern viele Ökostromkunden die Betreiber von Wasserkraftwerken im Ausland. Das spiele keine Rolle, meinen Befürworter dieser Strategie, schließlich gebe es nur eine Atmosphäre. Daher sei es egal, in welchem Land der CO2-Ausstoß verringert wird.
Der norwegische Strom gelangt gar nicht hierher
Der geringe Anteil grüner Elektrizität aus dem Inland hat einen einfachen Grund: Nur Strom, der nicht aus EEG-geförderten Anlagen kommt, kann als Ökostrom verkauft werden. Weil die Einspeisevergütungen trotz diverser Kürzungen nach wie vor attraktiv sind, hält sich die außerhalb der EEG-Förderung gehandelte Menge an grünem Strom bis jetzt in Grenzen. Sieverding: „Die Anbieter müssen sich ganz schön verrenken, um in Deutschland an zusätzlichen Ökostrom zu kommen.“ In Norwegen gibt es dagegen genug davon.
Die norwegische Lösung ist aber für Laien nicht so leicht nachvollziehbar, wie etliche Anbieter auch selbst einräumen. Denn laut den ok-power-Kriterien ist es nicht nötig, dass tatsächlich Wasserstrom von Norwegen nach Deutschland fließt. „Über welche Leitungen soll der Strom denn auch kommen“, fragt Energieexperte Köpke mit Blick auf fehlende Übertragungsleitungen. Anstelle des physischen Stromtransports, so Sieverding, erlaube ok-power auch die sogenannte bilanzielle Stromlieferung. Dazu wird norwegischer Ökostrom buchhalterisch ins deutsche Netz übertragen. Zum Ausgleich wird die gleiche Menge deutschen Stroms dem norwegischen Netz zugeschlagen. Auf dem Papier wird so der deutsche Strommix sauberer und der norwegische schmutziger. „In Deutschland muss dafür kein konventionelles Kraftwerk abgeschaltet werden“, sagt Sieverding.
Der feine Unterschied
Er wehrt sich aber dagegen, das ok-power-Siegel in einen Hut mit den umstrittenen RECS-Zertifikaten zu werfen. Ein solches Zertifikat bestätigt die Produktion einer bestimmten Menge an erneuerbarer Energie. Es kann aber auch unabhängig vom erzeugten Strom verkauft werden. Deutsche Versorger können bislang durch den Kauf von RECS-Zertifikaten konventionellen Strom in Ökostrom ummünzen.
Das ok-power-Siegel schließe RECS-Zertifikate zwar nicht grundsätzlich aus, sagt Sieverding, lege aber zusätzlich strenge Ökokriterien an. Während bei der reinen RECS-Deklaration auch jahrzehntealte Ökokraftwerke eingesetzt werden dürfen, muss bei ok-power ein Drittel der verkauften Strommenge aus Anlagen stammen, die jünger als sechs Jahre sind, ein weiteres Drittel darf maximal zwölf Jahre alt sein. Damit soll sichergestellt werden, dass zusätzliche Kapazitäten für Ökostrom aufgebaut werden. Zudem gelten hohe Umwelt- und Landschaftsschutzauflagen.
Alternative Direktvermarktung
Der Ökostrom-Marktführer Lichtblick, der ebenfalls mit dem ok-power-Zeichen wirbt und auf Kraftwerke in Norwegen und Österreich zurückgreift, legt Wert auf die Feststellung, dass die verkaufte Menge an grünem Strom tatsächlich ins Netz eingespeist wird. Ob das in Freiburg oder Oslo passiere, spiele keine Rolle, sagt ein Sprecher. Das Unternehmen will aber auch die inländische Erzeugung voranbringen und dazu 100 000 hocheffiziente Gas-Blockheizkraftwerke installieren, mit denen sich die Emissionen senken lassen. Bislang sind aber erst 700 in Betrieb.
Einen anderen Weg geht die Naturstrom AG. Statt echten oder virtuellen Ökostrom aus dem Ausland beziehen die Düsseldorfer nach eigenen Angaben 90 Prozent des verkauften Stroms aus heimischen Wind- und Wasserkraftwerken. Sie nutzen dabei die Möglichkeit der Direktvermarktung, mit der die Bundesregierung seit diesem Jahr die Marktfähigkeit von erneuerbaren Energien fördern will. Die Anlagenbetreiber verkaufen ihren Strom direkt an Naturstrom. Bei Windanlagen nimmt die Direktvermarktung zu. Naturstrom wirbt mit dem Grüner-Strom-Label (GSL) in Gold. Um es zu erhalten, müssen die Anbieter einen festgelegten Teil ihrer Erlöse in den Neubau von Ökokraftwerken in Deutschland investieren. „Fiktive Stromlieferungen allein durch den Erwerb von Zertifikaten“ würden nicht akzeptiert, heißt es in den Richtlinien. Neben GSL und ok-power gibt es auch Ökozertifikate vom Tüv, die aber niedrigere Kriterien anlegen und in der grünen Stromszene nicht ganz so hoch angesehen sind.
Investitionen in eigene Anlagen sind schwierig
Die Ökostrompioniere von der EWS im Schwarzwaldstädtchen Schönau investieren ebenfalls in neue heimische Erzeugungskapazitäten und erheben dazu pro Kilowattstunde einen Aufschlag („Sonnencent“). „Wir fördern damit aber auch andere sinnvolle ökologische Projekte – etwa zur Verbesserung der Energieeffizienz“, sagt EWS-Mitgründerin Ursula Sladek. So bekämen Kunden der Genossenschaft 75 Euro Zuschuss für den Einbau einer Strom sparenden Heizungspumpe. Bislang kommen laut Sladek rund zehn Prozent des EWS-Stroms aus eigenen Anlagen. Ein erheblicher Teil stamme wie bei vielen anderen Anbietern auch aus Norwegen.
Die Genossenschaft Greenpeace Energy, eine Tochter der Umweltorganisation, vertreibt dagegen vor allem Ökostrom aus Wasser- und Windkraftwerken in Österreich und Deutschland und verspricht einen besonders schnellen Zubau neuer Anlagen. Neukunden sollen nach spätestens fünf Jahren zu hundert Prozent mit Strom aus sauberen Kraftwerken versorgt werden, die maximal fünf Jahre alt sind. Zudem sollen künftig eigene Kraftwerke dazukommen, die bis jetzt noch keine große Rolle spielen. Wie die EWS nutzt Greenpeace Energy weder das ok-Power- noch das GSL-Siegel. Beide Anbieter verlassen sich auf ihre eigene Glaubwürdigkeit.
Wer wirklich etwas bewirken will, muss genau hinschauen
Und Glaubwürdigkeit ist bei den Ökotarifen ein zentrales Kriterium. „Ökostrom ist ein Vertrauensgut“, sagt Leprich. Wenn er erst mal ins Netz eingespeist wurde, ist er nicht mehr von Strom aus fossilen Kraftwerken zu unterscheiden. Trotz seiner Zweifel am unmittelbaren ökologischen Nutzen vieler Ökostromangebote sieht der Wissenschaftler auch positive Wirkungen. Die grünen Tarife trügen zum Bewusstseinswandel bei und könnten Investoren Signale geben, schreibt Leprich. Die Bedeutung der Ökotarife dürfte nach Einschätzung der meisten Experten auch zunehmen, wenn bestehende Anlagen in den kommenden Jahren nach und nach aus der EEG-Förderung fallen und der damit erzeugte Strom auf dem freien Markt verkauft wird.
Wichtiger als der Stromfluss sei der Geldfluss, meint E&M-Experte Köpke. Und darum hätten die Ökostromtarife auch schon heute ihre Existenzberechtigung. Kunden sollten sich fragen: „Was passiert mit dem Geld, das ich für meinen Strom zahle – fließt es an Eon & Co. oder an Leute, die es ökologisch sinnvoller einsetzen?“ Wer Antworten auf diese Frage sucht, muss sich allerdings die Mühe machen, die einzelnen Anbieter genau unter die Lupe zu nehmen. Ein schneller Blick auf einen Preisvergleich reicht dazu nicht.