Bei der Vierschanzentournee springen die österreichischen Skispringer hinterher. Ein ganzes Land fragt sich, warum das so ist.

Sport: Dominik Ignée (doi)

Innsbruck - Es sind Rentner mit mächtigen Bäuchen, die sich in Zirl bei Innsbruck im Hotel Tyrolis zum Kaffee treffen. 10 Uhr am Morgen, eine gute Zeit für einen Verlängerten. Es wird auch schon munter am Zigarillo gezogen. Dicke Wolken ziehen zur Decke. „Jo mei, der Stefan Kraft“, sagt einer, und die anderen vier nicken. „Mal taugt er was, dann taugt er wieder nix“, setzt der Wortführer seine Kurzanalyse zum Halbzeitstand der 66. Vierschanzentournee fort. Das Erdbeben, das der Untergang von Österreichs einst so ruhmreichen Skispringern in der Alpenrepublik ausgelöst hat, erfasst sogar die vielleicht entspannteste Rentnerrunde im ganzen Land.

 

Krafts Teamkollege Michael Hayböck war schon zuvor die gute Laune gründlich vergangen. Der ÖSV-Springer schaute drein, als würde er Garmisch am liebsten schlagartig verlassen, aber er musste noch Interviews geben. „Es ist zum Haareraufen, nichts läuft zusammen, das liegt uns im Magen“, sagte derweil Cheftrainer Heinz Kuttin nach dem Debakel. Und Ernst Vettori sprach von der schwierigsten Phase, seit er Nordischer Direktor sei. „Das war eine Watschn, dass wir nur so schauen.“

An diesem Donnerstag startet die Vierschanzentournee mit dem Bergiselspringen in Österreich. Und pünktlich zum Termin in Innsbruck hängt in der früher mit starken Skispringern so komfortabel ausgestatteten Republik der Haussegen schief. Denn bislang präsentieren sich die österreichischen Athleten bei dieser Tournee wie eine in sich zusammengefallene Truppe der Mutlosen. Nicht nur Stefan Kraft und Michael Hayböck.

Gregor Schlierenzauer ist als 15. des Tournee-Klassements bei Halbzeit noch der Beste. Es sagt viel aus, wenn ein Rückkehrer, der innerlich schon fix und fertig war mit seiner Karriere, zum Frontfigürchen avancieren muss. Supermann Kraft, dem nicht nur die Pensionäre im Hotel Tyrolis den Tournee-Sieg zutrauten, stand im Zielraum nur noch da wie ein Häufchen Elend. Er ist 27. der Gesamtwertung, Hayböck als 22. nur unwesentlich besser. Dabei hätte Kraft die Truppe mitziehen sollen. „Wenn das Zugpferd einen schlechten Tag hat, ist das doppelt blöd“, sprach Hayböck und schob damit die Verantwortung mal eben rüber zu Kraft – aber wohl nicht in böser Absicht.

Österreich, oh, Land der Skispringer. Von 2009 bis 2015 schnappte sich bei der Tournee siebenmal nacheinander ein Österreicher den Hauptpreis. Wolfgang Loitzl machte den Anfang, es folgten Andreas Kofler, Thomas Morgenstern, zweimal Schlierenzauer, der Eintagsfliegen-Gewinner Thomas Diethart und eben Kraft. Allesamt sind Helden und Nachfahren des großen Andreas Goldberger. Nach dieser traumhaften Serie gewann die Tournee der Slowene Peter Prevc, dann Kamil Stoch. Der Pole befindet sich bei dieser Ausgabe des Klassikers wohl nur mit dem Sachsen Richard Freitag im Kampf um die Krone.

Kraft steht meist ganz allein da

Und die Österreicher? Salopp formuliert: Sie schiffen ab. „ÖSV-Springer so schlecht wie 1979 (!) nicht mehr“, grantelt die „Kronen-Zeitung“. Nun waren die armen Jungs um Kraft aus Garmisch das Tal entlang über Mittenwald hinein in die Heimat geschlichen und wussten schon, was sie erwartet. Häme, Kritik – und ein bisserl ist es auch die Wut in einem Land, das sonst so stolz ist auf seine Helden im Alpin-Zirkus oder im Skispringen. „Am Neujahrstag kam die Ernüchterung“, stellt der „Kurier“ fest und zeigt ein Bild, auf dem sich Kraft die Hände vors Gesicht hält. Er schaut, als wäre die Welt eingestürzt. „Ich bin ratlos und kann es mir nicht erklären“, sagte er. Mit dünner Stimme – einfach nur kraftlos.

„Wir haben mehr drauf“

Am Trainer soll es nicht liegen. „So wie es der Kutti macht, ist es gut: Er analysiert viel und bleibt ruhig“, sagt Hayböck und nimmt Chefcoach Heinz Kuttin aus der Schusslinie. Der weiß sehr wohl, was schiefläuft bei Kraft. Zu viel laste auf den schmalen Schultern des 24-Jährigen, zu viel Druck, zu hohe Erwartungen, zu viel öffentliches Tamtam um seine Person. „Er ist zumeist alleine dagestanden. Es fehlt die Freiheit“, meint Kuttin über das Problem, das andere Athleten wie Hayböck im ÖSV-Team übrigens auch betreffe. Aber: „Wir haben alle mehr drauf.“

Kuttin, ein normalerweise ruhiger Zeitgenosse, fuhr im Hagel der Kritik aus der Haut. Wie es so ist, wenn es nicht läuft, kommen in Österreich immer die Besserwisser aus der Versenkung und schießen scharf. In dieser Rolle gefiel sich in einer Kolumne der „Tiroler Tageszeitung“ ausgerechnet Kuttins Vorgänger Alexander Pointner ganz ausgezeichnet. Der ÖSV habe es geschafft, einen der weltbesten Skispringer, also Kraft, „zu verunsichern“. Das Betreuerteam sei überfordert, und das ewige Relativieren mäßiger Erfolge würde dem Team jetzt auf den Kopf fallen, meint Pointner und wird sogar persönlich: „Die gestrige plötzliche Erkenntnis von Heinz Kuttin, dass jetzt mit dem Analysieren Schluss sei, weil sich die ,Jungs‘ ja nicht mehr ,spüren‘, kommt viel zu spät.“

Kuttin spricht vin inakzeptabler Kritik

Diese Kritik empfindet Chefcoach Kuttin als „nicht verständlich und nicht akzeptabel“. Er vermutet dahinter eine Marketingstrategie Pointners in eigener Sache auf Kosten anderer. Die Unruhe von außen hilft der Mannschaft in dieser schwierigen Situation derweil nicht unbedingt aus dem Stimmungstief – führt aber auch zu gewissen Trotzreaktionen. „Es gibt solche Phasen, manchmal steht man oben und manchmal nicht“, sagt Gregor Schlierenzauer lapidar. Vorwerfen lassen will er sich in seinem Comeback-Winter ohnehin nichts. „Ich muss mir nichts beweisen, ich mache das hier nur für mich“, sagt der mehrfache Weltmeister und versucht, das österreichische Desaster nicht allzu sehr an sich heranzulassen.

Und Michael Hayböck? Der hatte für sich und seine Kollegen ein vielleicht sogar erfolgversprechendes Mittel zur Krisenbewältigung parat: „Tipp-Kick spielen“.