Von Geschichte und Geschichten ist am Tag der Offenen Tür im Stadtarchiv und in der Werner-Zeller-Stiftung in Leonberg die Rede.

Es war noch dunkel, als auf einmal an meiner Thür gepoltert wurde, wie wenn man sie einschlagen wollte. . .“, schrieb die 17-jährige Maria Gephardt – allerdings nicht auf Facebook oder anderen Plattformen im Netz, sondern in ein Leder gebundenes Tagebuch. Kaum vorstellbar heute, am 12. März 1882 aber Normalität. Da reiste die junge Maria mit ihrem Vater ins ferne Amerika und hielt ihre Eindrücke fein säuberlich in drei Tagebüchern fest.

 

Die Archivarin Andrea Schmidt von der Werner-Zeller-Stiftung kann die Aufzeichnungen prinzipiell lesen, stößt allerdings manchmal an ihre Grenzen. „Damals hatten manche eben auch schon eine Sauklaue, und dann kann man nicht alles entziffern“, meint sie mit einem Schmunzeln und zeigt auf ein paar der geöffneten, handschriftlichen Bücher in Kurrentschrift.

Eine Reise in die Vergangenheit

160 Regalmeter mit 100 Nachlässen finden sich in den Räumlichkeiten im Seedamm-Center, und beim Tag der offenen Tür haben die Besucher Gelegenheit, direkt in die Vergangenheit zu blicken. „Solch ein Archiv gibt es meines Wissens nach sonst nicht mehr in Deutschland, in dem private Nachlässe wie Tagebücher, Frontbriefe und Lebensbeschreibungen aufbewahrt werden.“ Anhand der Aufzeichnungen können Rückschlüsse auf das damalige Leben gezogen werden. Etwa einmal im Jahr kommt ein Nachlass an. „Meistens im Karton, unsortiert und durchgeschüttelt“, sagt die Archivarin.

Sie sortiert grob nach Briefen oder Schriftgut, Bildern und Büchern. Weiter verfeinert wird dann nach Jahreszahl, Absender und Adressat. „Wir vergeben auch Schlagwörter, wie zum Beispiel zu Missionstätigkeiten, Reisen oder Ausbildungen.“ Oft ist die Sichtung eine Reise in die Vergangenheit. „Vor allem, wenn man Kriegstagebücher liest. Man sieht es aus einer anderen Perspektive und weiß bereits, wie die Geschichte enden wird, dass derjenige am nächsten Tag tot sein wird. Das ist sehr emotional.“

Vom Geldschuldner zum YMCA-Gründer

Interessant ist auch die Beurkundung des württembergischen Hofrats Georg Michael Schlümbach. Dieser wird im Jahr 1761 von Kaiserin Maria Theresia in den Reichsadelsstand erhoben. Jahre später nimmt sein Enkel Friedrich Schlümbach, ein verurteilter Geldschuldner, dieses Schriftstück auf seiner Flucht nach Amerika mit.

Erst 250 Jahre später findet der Adelsbrief seinen Weg zurück nach Deutschland und liegt nun in einer eisernen Schatulle präsentiert am Eingang der Stiftung. Übrigens war besagter Geldschuldner Friedrich Schlümbach Gründer der Jugendorganisation YMCA in Amerika. Der neueste Zugang ist der Luisenring aus dem Jahr 1809, ein Geschenk von Königin Luise von Preußen an einen Zeller-Vorfahren für wertvolle Verdienste im Schulwesen.

Aber auch das Stadtarchiv öffnet am Wochenende seine Pforten für Besucher. Stille herrscht in dem kleinen, abgedunkelten Raum im Stadtarchiv Leonberg. Plötzlich ruckeln Bildaufnahmen aus längst vergessenen Tagen über die Leinwand. Leonberg im Jahr 1971. Farbenfroh und mit viel Liebe zum Detail gedreht. „25 500 Einwohner zählte Leonberg damals. Die Teilorte waren noch selbstständig, nur Eltingen war seit 1938 eingemeindet“, informiert Bernadette Gramm, die Leiterin des Stadtarchivs.

600 Jahre Stadtgeschichte werden lebendig

Kurz zuvor hat sie die Besucher ins Herzstück des Archivs im Obergeschoss geführt und einige Schätze gezeigt. „Das Archiv ist eine Pflichtaufgabe jeder Stadt“, erklärt Gramm, und hält wenig später ein Pergament aus dem Jahr 1410 in den Händen. Es ist die Schenkungsurkunde einer Leonberger Bürgerin, die ihren Enkeln 70 Pfund Heller geschenkt hat. „Eine Menge Geld, denn für diesen Betrag hätte sie zur damaligen Zeit auch 1400 Hühner kaufen können.“

Dank des Archivs wird mehr als 600 Jahre alte Geschichte lebendig. Bei den sogenannten Kaufbüchern aus den Jahren 1556 bis 1899 wurden Haus- und Ackerkäufe festgehalten. Zur Hausforschung sind diese Bücher jedoch nicht wirklich geeignet. „Da stand drin, dass sich das Haus in der Schlossgasse neben dem Haus vom Jakob Müller und Georg Mauch befindet.“ Die Besucher lachen. Erst später, als die Kaufbücher vom Grundbuch abgelöst wurden, kamen Hausnummern auf.

Die gebunden Ausgaben der Leonberger Zeitung aus dem Jahr 1938 stoßen ebenso auf reges Interesse wie die Fotomappe der ehemaligen Maschinenfabrik Stohrer. „Jetzt raucht ein Schlot auch in Leonberg“, zitiert Gramm eine Zeitungsüberschrift. Viel hat Gramm zu erzählen. So wurden während einer Baumaßnahme Knochen bei der Stadtkirche entdeckt, was die Archivarin auf den Plan rief. Kurze Zeit später erhielt sie ein Päckchen und öffnete es. „Und dann lag da ein Schädel drin.“ Der Absender hatte in jugendlichem Leichtsinn den Schädel bei Renovierungsarbeiten 1963 mitgenommen.