Erstmals seit fast 155 Jahren soll die SPD von einer Frau geführt werden. Aber die Widerstände gegen Andrea Nahles sind groß – aus unterschiedlichen Motiven. Jetzt kommt erst einmal Olaf Scholz.

Berin - Um 18:40 fällt für Martin Schulz der Vorhang. Ein letztes Mal tritt er da im Willy-Brandt-Haus vor die Presse, verkündet seinen Rückzug als Parteichef. Einem Amt, das immer „nur der reine Spaß“ gewesen sei, wie er ironisch anmerkt. Blass sieht er aus, zugleich aber auch erleichtert. Er hoffe, dass die Personaldebatten mit diesem Schritt beendet seien, dass der Blick der Mitglieder nun auf die Inhalte des Koalitionsvertrags gelenkt werde, den er einen großen Erfolg nennt, eine Erneuerung des Landes, einen Aufbruch für Europa.

 

Am 22. April soll dann in Wiesbaden Andrea Nahles zur Vorsitzenden der SPD gewählt werden. Einstimmig habe dies das Präsidium beschlossen. Das aber ist wenig überraschend. Was zu diesem Zeitpunkt schon hinter den Kulissen kolportiert wird, taugt schon eher als Nachricht: Olaf Scholz soll kommissarisch die Partei bis dahin führen. Ausgerechnet der Hamburger also, der von allen Stellvertretern mit dem schlechtesten Ergebnis ins Amt gewählt worden ist.

Nahles muss die Fehler ausbaden

Der letzte große Fehler des scheidenden SPD-Chefs Martin Schulz, das wird in solchen Momenten deutlich, unterscheidet sich von den zahlreichen vorangegangenen vor allem in einem Punkt: Er muss die Folgen nicht mehr selbst auslöffeln. Das muss Nahles. Schulz hatte nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen völlig falsch eingeschätzt, welche Wirkung sein resolutes Streben ins Kabinett von Angela Merkel in der Partei entfalten würde. Wo er doch versprochen hatte, eben dies nicht zu tun. Er glaubte, die Partei ruhigstellen zu können, indem er den Parteivorsitz aufgibt.

Was für ein fataler Irrtum. Die Parteigliederungen liefen Sturm, der Wortbruch war das eine, den Parteivorsitz, laut dem früheren SPD-Chef Franz Müntefering „das schönste Amt neben dem Papst“, einfach so hinzuschmeißen das andere. Das macht ein Genosse einfach nicht, so die Stimmungslage.

Sturm der Entrüstung an der Basis

Was folgte war ein Sturm der Entrüstung, eine regelrechte Revolte der Basis, versendet in Mails, verschickt in frankierten Umschlägen. Schulz gab am Freitag seinen Plan auf, erst nach dem Mitgliedervotum den SPD-Parteivorsitz geordnet auf einem Sonderparteitag an Nahles abzugeben. Das Chaos war perfekt.Dennoch gab es keinen, der ihm in der abermals geschockten Parteiführung Steine in den Weg gelegt hätte, denn wohl jedem war klar, dass Schulz nicht mehr erfolgreich in den anstehenden Regionalkonferenzen für die große Koalition hätte werben können. Jedes Wort aus seinem Mund wäre Wasser auf die Mühlen der Groko-Gegner gewesen, so die allgemeine Einschätzung.

Also wurde auf einer Telefonschalte der engeren Führung am Wochenende Hals über Kopf vereinbart, dass Andrea Nahles den Parteivorsitz an diesem Dienstag kommissarisch übernehmen müsse. Weil kein Machtvakuum entstehen solle in einer Phase, in der es so kurz vor dem Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag mit der Union mehr denn je auf eine klare Linie und Geschlossenheit ankomme, so lautete sinngemäß die Begründung derer, die diesen Schritt für zwingend notwendig hielten. Das aber machte die Sache nicht besser, im Gegenteil.

Die nächste Woge der Empörung erfasste die Parteispitze, abermals werde „in Hinterzimmern“ ausgeklüngelt, wer die SPD führen solle, die überraschende Kandidatur der Flensburger Oberbürgermeisterin und Groko-Gegnerin Simone Lange war nun die Folge. Parteilinke um die Südwest-Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis forderten eine Urwahl.

Affronts gegen die heimliche Vorsitzende

Eher konservative Vertreter der roten Zunft sprachen sich derweil dafür aus, Sigmar Gabriel als Außenminister weiter wirken zu lassen, nachdem Schulz darauf verzichtet hatte. Auch diese Vorstöße musste Nahles als Affront begreifen, zumal Gabriel-Fans wie der Sprecher des Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, nicht dafür bekannt sind, allzu große Sympathien für die ehemalige Juso-Chefin zu hegen. Fest steht, dass die 47-jährige Fraktionsvorsitzende, seit Wochen schon heimliche Parteichefin, Martin Schulz gewiss nicht nur vom Auswärtigen Amt träumen ließ, weil sie von dessen Qualitäten noch überzeugt gewesen wäre. Ihr kam dessen Karrierewunsch wohl auch deshalb gelegen, weil sie auf diese Weise Sigmar Gabriel, mit dem sie seit ihrer Zeit als SPD-Generalsekretärin in herzlicher Abneigung verbunden ist, endgültig hätte ins Aus befördern können. Auch dieser Plan ist vorerst geplatzt, denn Gabriel wird, da ist man sich in der Parteiführung einig, nun erst recht keine Ruhe geben.

Groko-Gegner würden von Schwächung von Nahles profitieren

Für die Groko-Gegner wäre die Schwächung Andrea Nahles’ ein Geschenk des Himmels, denn spätestens seit ihrer fulminanten Siebenminutenrede auf dem Sonderparteitag im Januar gilt sie als eine der wenigen, die in der Lage ist, die Parteimitglieder noch einmal von einer großen Koalition zu überzeugen. Wohl auch deshalb kam aus den stramm links verorteten Landesverbänden Berlin, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt auch prompt das Signal, dass Nahles auf die kommissarische Führung der Partei verzichten solle. Um dies zu untermauern, wurden aus diesem Lager satzungsrechtliche Bedenken ins Feld geführt, denn Nahles sei kein gewähltes Mitglied des Parteivorstandes. Ein kommissarischer Vorsitzender müsse aber aus dem Kreis der Stellvertreter auserkoren werden.

Satzung nicht eindeutig

Die Satzung lässt sich in dieser Frage nicht eindeutig lesen, aber die Parteihistorie schien den Kritikern des schnellen Vollzugs recht zu geben, denn sowohl Johannes Rau (1993) als auch Frank-Walter Steinmeier (2008) waren gewählte Vizechefs, als sie jeweils für wenige Wochen kommissarisch den Vorsitz übernahmen.

Am Dienstag kursierte in der Partei deshalb zunächst die Variante, dass Vizechefin Malu Dreyer vorläufig ans Steuer treten könnte. Dann, die Überraschung: Scholz soll kommissarisch führen. Nahles gibt nach, noch bevor sie überhaupt gewählt ist. Ein Traumstart sieht anders aus.

Nahles gibt sich kämpferisch

Nahles tut das alles nach der Vorstandssitzung als unbedeutendes Scharmützel ab. Weshalb sich an dieser Stelle verkämpfen, fragt sie sinngemäß mit heißerer Stimme, wieso mit dem Kopf durch die Wand, wenn es der Sache nicht dient. In einem Punkt freilich ist sie beinhart: Sie trete ohne Wenn und Aber für die große Koalition ein. Ob sie mit dem Ausgang des Mitgliedervotums ihr persönliches Schicksal verknüpfe und ob sie aufgebe, wenn der Entscheid am Ende „in die Hose geht“, wird sie gefragt. „Es geht nicht in die Hose“, antwortet sie gewohnt kämpferisch: „Und mein Schicksal verknüpfe ich mit goa nix.“