Den Torwart durch einen siebten Feldspieler zu tauschen, war im Handball schon früher möglich. Doch seit Neuestem muss so ein Spieler nicht mehr auffällig gekennzeichnet werden. Wie sich die neue Regel in Rio auswirkt.

Sport: Jürgen Frey (jüf)

Rio de Janeiro - Andreas Wolff ist fast zwei Meter groß, er wiegt 110 Kilogramm. Für einen Handball-Keeper sind das stattliche Maße, ein Sprinter benötigt nicht so viel Masse. „Ich bin Torwart geworden“, sagt Wolff, „damit ich nicht viel laufen muss.“ So kann man sich täuschen.

 

Es gibt im Handball einige neue Regeln, aber vor allem eine ist wichtig. Für Wolff und seine Kollegen, aber auch für das gesamte Spiel, dessen Taktik und Statik. Schon in der Vergangenheit war es möglich, den Torwart gegen einen siebten Feldspieler zu tauschen. Dieser hatte ein Leibchen überzuziehen, vorne und hinten mussten Löcher in den Stoff geschnitten sein, um die Nummern erkennen zu können. Der Torwart durfte erst zurück in den Kasten, nachdem dieser Akteur wieder die Wechselzone erreicht hatte. Bei den Olympischen Spielen muss der siebte Feldspieler erstmals nicht mehr gekennzeichnet werden. Kleine Änderung, großer Wirkung.

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Bisher hatte das verteidigende Team einen Vorteil: Der Mann mit dem Leibchen konnte vernachlässigt werden. Nach einem Wurf rechtzeitig auf die Bank zurückzukehren, war fast unmöglich, das eigene Tor zu lange verwaist. Deshalb blieb der siebte Feldspieler meist ungefährlich – mit Andy Schmid als Ausnahme. Der Regisseur der Rhein-Neckar Löwen ist derart spielintelligent, dass er es wie kein anderer in der Bundesliga verstand, das richtige Timing zu finden. Aktuell kann nun jeder Spieler für den Torwart das Feld verlassen, im Zweifelsfall wird es jener sein, der sich am nächsten an der eigenen Bank befindet. Das ergibt taktisch vollkommen neue Möglichkeiten, die in Rio vor allem die Deutschen nutzen. Und das ist kein Zufall.

Harte Arbeit an taktischen Varianten

Bundestrainer Dagur Sigurdsson nutzte vor den Sommerspielen ein ganzes Seminar mit seinen Bundesliga-Kollegen, um über die neuen Regeln zu diskutieren. Und er hat mit seinem Team hart an taktischen Varianten gearbeitet. Das Ergebnis? War im zweiten Vorrundenspiel gegen Polen zu sehen. In der entscheidenden Phase schuf Sigurdsson durch den siebten Feldspieler im Angriff rund eine Viertelstunde lang ständige Überzahl-Situationen. Es gab zwar einige Abspielfehler zu viel und dadurch leichte Gegentore, aber auch vorne klingelte es immer wieder, weil die Polen kein Mittel fanden, um ihre Unterzahl irgendwie zu kompensieren. „Unser Angriff brauchte Hilfe“, meinte Sigurdsson, „also habe ich den Rhythmus geändert.“

Hört sich einfach an, hat aber weitreichende Folgen. Weil es Trainer durch die neue Regel leichter haben, einen zusätzlichen Feldspieler zu bringen, sind Zeitstrafen, die gegen einen verhängt werden, nicht mehr ganz so schlimm. Folge: Das Spiel droht härter zu werden. Darauf haben die Schiedsrichter in Rio bereits reagiert: Sie pfeifen kleinlich, es gibt wesentlich mehr Zeitstrafen als. Und dadurch, dass oft sieben Angreifer auf sechs Verteidiger treffen, gibt es weniger Platz auf dem Feld und größere Hektik. Bleibt die Frage: Erfindet sich der Handball gerade neu? „Zumindest ist es ein taktisches Element, das uns helfen kann. Bei uns geht es bisher auf“, sagt Delegationsleiter Bob Hanning, „allerdings bin ich nicht unbedingt ein Freund davon. Ich mag lieber das Spiel sechs gegen sechs.“

Andreas Wolff ist skeptisch, ob die neue Regel etwas bringt

Die Spieler sehen die neue Regel gelassen. „Wir fühlen uns wohl in den Überzahl-Situationen“, sagt Rückraummann Paul Drux, „wir müssen es nur noch genauer auf den Punkt bringen.“ Ähnlich sieht es Kollege Fabian Wiede: „Wir müssen uns noch ein bisschen reinfinden. Dann werden wir uns in Überzahl noch mehr gute Chancen herausspielen.“

Allerdings gibt es bei den Deutschen einen, der skeptisch ist: Andreas Wolff. Er taucht nun zwar regelmäßig unter den Torschützen aus, wenn er aus der Ferne in den verlassenen gegnerischen Kasten trifft. Dafür hat er weniger Ruhe, um sich auf den nächsten Angriff des Gegners vorzubereiten – weil er oft erst wie ein Schwergewichts-Sprinter in den Kasten hetzen muss. „Meine Begeisterung hält sich in Grenzen“, sagt Wolff, „diese Regel kann einen Sport kaputt machen, der sehr attraktiv war.“

Der Ex-Bundesligatrainer Rolf Brack im Interview zu den neuen Regeln

Herr Brack, Sie gelten als Erfinder des siebten Feldspielers im Handball. Wie nehmen Sie die aktuelle Entwicklung wahr?
Dadurch dass der siebte Feldspieler nun nicht mehr durch ein Leibchen gekennzeichnet werden muss, wird dieses taktische Mittel in Unterzahl zu fast 100 Prozent angewandt. Das habe ich genau so erwartet. Für das deutsche Team war die Effektivität im Angriffsspiel bei Olympia gegen Polen der Schlüssel zum Sieg.
Wie verändert sich die Sportart dadurch?
Sie wird sich sehr markant verändern. Es ist jetzt mehr Handball-Schach als Spiel und Kampf. Mal sehen, wie lange uns die Neuerung erhalten bleibt. Aber grundsätzlich sollte man beschlossene Regeln annehmen und das Beste daraus machen.
Wird nicht der Stellenwert einer bisher funktionierenden Abwehrarbeit eingeschränkt?
Nein, vielmehr ist die Deckung bei einer 6:7-Unterzahl noch mehr gefordert. Es muss stärker antizipiert werden, aktiver verteidigt werden. Und die Torhüter sind einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt. Sie müssen sprinten, können sich aber auch spektakulär in Szene setzen.
Rolf Brack leitet an diesem Samstag eine Trainerfortbildung zum Spiel 7:6 und 6:6 ohne Torwart. Sie findet von 9.45 Uhr bis 13 Uhr in der Schafhausäckerhalle in Plochingen statt. Kosten: 50 Euro. Es sind noch Plätze frei. Brack ist in der neuen Saison als Berater von Zweitligist DJK Rimpar Wölfe tätig.