Elaine Thompson-Herah, Shelly-Ann Fraser-Pryce und Shericka Jackson bescheren Jamaika im Finale über 100 Meter einen Dreifachsieg.

Tokio - Der prominenteste Gratulant war ein alter Bekannter. „1.2.3.“ twitterte Usain Bolt, dazu postete er drei Jamaika-Flaggen. Zuvor hatten Elaine Thompson-Herah, Shelly-Ann Fraser-Pryce und Shericka Jackson der Karibik-Insel im Finale über 100 Meter einen Dreifachsieg beschert, der deutlich zeigte: Die Sprinterinnen sind auf dem besten Weg, ihren männlichen Kollegen den Rang abzulaufen – was allerdings nicht immer nur positiv sein muss.

 

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Rückblick, Samstagabend im Olympiastadion in Tokio. Das Spektakel beginnt schon lange vor dem Startschuss. Die Sprinterinnen wissen sich zu inszenieren. Lange Haare in unterschiedlichsten Farben, reichlich Schminke, bunte Fingernägel: Die Bahn wird zum Laufsteg. Dazu passt die Lasershow, sie rückt die Stars ins rechte Licht. Wie auch der olympische Zeitplan. Der Wettbewerb der Frauen ist der erste große Höhepunkt der Leichtathletik-Wettbewerbe, die Männer sind erst am Tag danach dran. Sie rennen hinterher. Das war vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar.

Ein Jahrzehnt lang dominierte Usain Bolt die Leichtathletik. Er war nicht nur der Supersprinter, der alles abräumte, egal ob bei Olympischen Spielen (8x Gold) oder Weltmeisterschaften (11x Gold, 2x Silber, 1x Bronze). Sondern ein Weltstar. Eine Lichtgestalt, in dessen Schatten sich niemand entwickeln konnte. Auch kein Nachfolger. Seit Bolt 2017 nach der WM in London seine Karriere beendet hat, drei Kinder zeugte und ein leichtes Bäuchlein ansetzte, kommt der 100-Meter-Sprint der Männer nicht mehr richtig auf die Beine. Das größte Potenzial hatte Christian Coleman, 2019 in Doha der erste Weltmeister in der Nach-Bolt-Ära. Doch der US-Amerikaner verstrickte sich in den Anti-Doping-Regularien, nach drei Verstößen gegen die Meldepflicht innerhalb eines Jahres sitzt er derzeit eine Sperre ab. Die Sprinterinnen haben dieses Vakuum genutzt. Mit einem ganz besonderen olympischen Auftritt.

Olympischer Rekord

Elaine Thompson-Herah rannte so flott, dass sie es sich leisten konnte, schon einige Meter vor dem Zielstrich den Arm in die Luft zu recken. Trotzdem lief die Jamaikanerin, die auch 2016 in Rio triumphiert hatte, unglaubliche 10,61 Sekunden. Das bedeutete olympischen Rekord. Und die zweitschnellste Zeit der Leichtathletik-Geschichte. Nur die ebenso unvergessene wie umstrittene Florence Griffith-Joyner (USA) war vor 33 Jahren bei ihrem Fabelweltrekord von 10,49 Sekunden noch schneller. Thompson-Herah siegte vor Weltmeisterin Fraser-Pryce (10,74 Sekunden), die vier Jahre nach der Geburt ihres Sohnes Zyon ihr drittes Olympia-Gold über 100 Meter nach 2008 und 2012 verpasste. Auf Rang drei kam Shericka Jackson (10,76). Das Duo würdigte die ungeliebte Rivalin nach dem Rennen kaum eines Blickes. „Ich kann keine Worte finden, es war perfekt“, sagte Thompson-Herah nach ihrem Erfolg im leeren Olympiastadion, „ich habe laut geschrien, so glücklich war ich. Ich wusste, dass eine solche Zeit drin liegt.“ Nach der sich allerdings auch Fragen stellten. Es löst in einer dopingbelasteten Disziplin wie dem Sprint immer ungute Gedanken aus, wenn eine Nation derart dominiert wie in Tokio Jamaikas Frauen. Erst recht beim Blick auf die Zeit der Siegerin. Dazu kommt die allgemein ziemlich rasante Leistungsentwicklung, zum Beispiel von der US-Amerikanerin Sha’Carri Richardson, die sich in dieser Saison erst auf 10,72 Sekunden steigerte, dann aber wegen des Konsums von Cannabis das Olympia-Startrecht verlor. Und natürlich die Geschichte von Blessing Okagbare.

Erster Dopingskandal

Die nigerianische Sprinterin (Bestleistung: 10,79 Sekunden) und Sieben-Meter-Weitspringerin sorgte für den ersten Dopingskandal der Olympischen Spiele. Die 32-Jährige, die im Juni mit etwas zu viel Windunterstützung erstaunliche 10,63 Sekunden gelaufen war, ist bei einer Trainingskontrolle am 19. Juli positiv auf das Wachstumshormon getestet worden. Ihre Suspendierung veröffentlichte die Integrationskommission des Leichtathletik-Weltverbandes (Aiu) vor dem Halbfinale, für das sich Okagbare qualifiziert hatte. Ihre Bahn blieb leer. Bereits am Mittwoch hatte die Aiu zehn nigerianischen Leichtathleten und Leichtathletinnen den Olympia-Start untersagt, weil sie sich vor den Spielen keinem ausreichenden Testprogramm unterzogen hatten. Diesen Ausschluss kritisierte auch Akagbare vehement: „Das Sportsystem in Nigeria ist mangelhaft, und wir Athleten haben am Ende immer den Schaden.“ Was für eine Heuchelei.

Elaine Thompson-Herah hat die ganze Diskussion zur Kenntnis genommen. Mehr nicht. Sie peilt in Tokio das Triple an, das ist ihr wichtig. Weiter geht es an diesem Dienstag mit den 200 Metern. Und dem nächsten Spektakel im Frauensprint. Mal sehen, was Usain Bolt dann twittert.