Die Maßstäbe an die umstrittenen Russlandspiele in Sotschi werden hoch angesetzt – möglicherweise zu hoch. Leere Ränge und fehlende Begeisterung sind bei Olympia nichts Neues.

Sport: Dominik Ignée (doi)

Sotschi/Krasnaja Poljana - Neulich hat der Olympiagast Wladimir Putin in Sotschi die Eiskunstlaufhalle besucht. Es ist nicht so, dass ihm die Spiele keine Freude bereiten, nur weil sein frostiger Blick auf eine gewisse Emotionslosigkeit schließen lässt. Der Präsident nimmt die Angelegenheit erwartungsgemäß ernst. Er überzeugt mit hoher Präsenz, drückt dem russischen Landsmann Jewgeni Pluschenko im Teamwettbewerb die Daumen. Es gibt Gold, wie schön, das passt.

 

Als Putin auf der Videotafel riesengroß eingeblendet wird, kommt es zu einem kleinen Zwischenfall. Ein paar Zuschauer setzen für die Winzigkeit einer Sekunde zum Buhruf an – und verstummen gleich wieder. Man kann viel hineininterpretieren in diese Szene. Möglich, dass sie ein bestimmtes Signal geben wollten: Der Kremlchef ist jetzt nicht wichtig. Diese 22. Olympischen Winterspiele gehören dem Sport und seinem Publikum.

Oben in den Bergen bleiben Plätze frei

Dieses Publikum bevölkert im Olympiapark den weitläufigen Platz, den die Eissporthallen und das Stadion umsäumen. Das sind alles Monumentalbauten. Auch wenn sich die Frage stellt, ob die 340 000-Einwohnerstadt Sotschi diese architektonischen Monumentalwerke noch benötigt, wenn der olympische Zauber verflogen ist, so wird die gewaltige Kulisse mit großen Augen bewundert. Die Besucher flanieren, staunen oder stehen in der Schlange an einer Imbissbude. Straßenkünstler zeigen, was sie können, es ist was los. Es herrscht eine olympische Atmosphäre.

So präsentierte sich Olympia zuletzt in Vancouver und London. Sotschi kann da einigermaßen mithalten. Oben in den Bergen verhält es sich aber anders. Nach und nach rückt zwar mehr Publikum an, aber von einem großartigen Sportfest kann keine Rede sein. Auf den Stahlrohrtribünen an den Wettkampfstätten sind Plätze frei, mal mehr, mal weniger. Wenn die alpinen Skifahrer zu Tal rasen, ist ein Drittel der Plätze unbelegt – von dem angekündigten ausverkauften Spektakel kann keine Rede sein. Das Organisationskomitee der ersten russischen Winterspiele vermeldet eine Auslastung von bisher 90 Prozent. Doch beim Blick in die Stadien könnte der Verdacht aufkommen, dass sich die Veranstalter ihre Spiele ein bisschen schönrechnen.

Tatsächlich werden die IOC-Größen langsam unruhig, nun, da ein Drittel des Sportfestes vorüber ist. Anlass dazu geben die unterkühlte Olympia-Atmosphäre und die teilweise leeren Ränge in den Skiarenen. „Wir sind davor gewarnt worden. Es sind nicht genügend Zuschauer, die Stadien sind nicht voll, und es fehlt ein bisschen der Enthusiasmus“, formuliert der IOC-Marketingchef Gerhard Heiberg seine Eindrücke noch einigermaßen höflich. Andere Funktionäre gehen mit der Situation dagegen hart ins Gericht. „Die bisherige Stimmung ist nicht auf dem Level von Weltcupveranstaltungen“, poltert zum Beispiel Alfons Hörmann, der Chef des Deutschen Olympischen Sportbundes.

Wird Sotschi zum faulen Zauber?

Der Präsident des Skiweltverbandes Fis hat eine ähnliche Meinung. So sieht sich Gian-Franco Kasper in seinen Befürchtungen bestätigt, die durch die gesteigerten Sicherheitsvorkehrungen massiv beschränkten Kapazitäten in den Stadien könnten die Spiele zu solchen machen, die „ohne Emotionen und Herzen“ über die Bühne gehen. Er, so Kasper, habe an den Strecken jedenfalls kaum Fanclubs aus Europa entdeckt.

Im Skistadion Rosa Khutor steht zwar eine Gruppe, die Maria Höfl-Riesch mit deutschen Fahnen zu Kombinationsgold wedelt, aber die ist winzig. „Die Organisatoren müssen zusehen, dass sie die Stadien füllen“, sagt der IOC-Mann Heiberg. Es wird darüber nachgedacht, einen Teil der wirklich zahlreichen freiwilligen Helfer in die Stadien zu lotsen, damit die Fernsehbilder zeigen, dass Olympia ankommt. Wird Sotschi zum faulen Zauber?

Die Maßstäbe an die umstrittenen Russlandspiele werden hoch angesetzt – möglicherweise auch zu hoch. Leere Ränge und fehlende Begeisterung sind bei Olympia nichts Neues. 1998 fanden in Nagano selbst die alpinen Wettbewerbe vor einer Geisterkulisse statt. Auch die Italiener konnten 2006 mit ihren Spielen in Turin ziemlich wenig anfangen – das olympische Gefühl tendierte gegen Null.

In Krasnaja Poljana fehlt beispielsweise die Kneipenkultur

In Krasnaja Poljana, dem Skiort 40 Kilometer östlich von Sotschi, laufen am Abend ein paar Menschen verloren durch die viel zu breiten Straßen. Das Dorf präsentiert sich steril und kulissenhaft. Es gibt keine Kneipenkultur, also auch nicht die beispielsweise in österreichischen Bergdörfern gelebte Gemütlichkeit. Die gibt es auch in Whistler, wo die Schneedisziplinen der Vancouver-Spiele 2010 stattfanden. In der charmanten Welt der kanadischen Rocky Mountains waren einige Gaststätten wegen Überfüllung geschlossen – und zwar zu jeder Tageszeit.

Wie es auch gehen kann, sah Wladimir Putin im Österreich-Haus, dessen Omnipräsenz an den Orten der Winterspiele russische Zeitungen schon als „Präsidenten-Marathon“ bezeichnen. Dorthin haben sie ihn eingeladen. Er soll sich wohl gefühlt und auch ein paar Takte des Bergsongs „Die Almhütten“ mitgesungen haben. Die wichtigen und weniger wichtigen Österreicher wollten es sich nicht entgehen lassen, mal mit dem Kremlchef einen Schnapserl zu trinken – während draußen vor der Tür in Krasnaja Poljana damit begonnen wurde, die Bürgersteige hochzuklappen.