Gewohnheitsmäßig setzen Leichtathleten während der Wartezeit im Stadion die Kopfhörer auf. Obwohl: es gab mal eine, die hat stundenlang in einem Buch geblättert - und wurde anschließend Olympiasiegerin.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

London - Vor ein paar Wochen, als zu allem sportlichen Überfluss auch noch die Leichtathletik-Europameisterschaften in Helsinki stattfanden, waren am frühen Morgen, wenn die Siebenkämpferinnen anfangen und die Kugelstoßer, höchstens ein paar hundert Menschen im Stadion. Im Grunde genommen spielte der Himmel über Helsinki stundenlang die Hauptrolle, zumindest im Fernsehen und auf Eurosport. Es war tagelang ein sehr schöner Himmel, sehr nördlich, ein Meershimmel, weiß, besonnt. Das waren gleichzeitig ruhige Stunden für die Sportler im Wettkampf und in der Qualifikation. Nur ihre Trainer und ein paar Freunde achteten auf sie.

 

Das ist jetzt in London natürlich alles ganz anders, und trotzdem ist der Kugelstoßer (und Welt- und Europameister) David Storl, dem man ansah, dass er eher nicht so gerne wahnsinnig früh aufsteht, fast erschrocken gewesen, als schon 80.000 Menschen da waren, um zu schauen, ob er wohl durch den Vorkampf kommt. Storl ist jemand, der als sehr cool gilt, tatsächlich aber hat er sich „in den letzten Tagen schon ziemlich viele Gedanken gemacht“, wie er dem ZDF sagte. Nun ist Storl durch, er kann in relativer Ruhe auf den Abend warten. Wie macht er das? „Mittagsschläfchen, Kaffee trinken“, sagt er, und dann kämen „ja schon die Physios“. Im Zweifelsfall ziehen sich die meisten Sportler unter ihre Kopfhörer zurück. Obwohl es auch Leser gibt.

Tatsächlich: in den Pausen wird gelesen

Paul Biedermann hatte in der Schwimmhalle ein Buch in der Hand, dessen Titel leider nicht genau zu erkennen war, aber er kam nicht richtig rein, weil es anscheinend noch eine Menge zu besprechen gab. Neben ihm saß Britta Steffen. Beim Tennis ist Andrea Petkovic eine bekennende Leserin, doch sie will es, hat sie schon mal gesagt, auch nicht übertreiben, sonst sagen die anderen noch unverhohlener, dass sie „komisch“ sei. Ein gutes Stichwort.

Das Bild ist aus Mexiko, 1968, und die Aufnahmen von damals sind noch in Schwarz-Weiß, das rückt alles immer noch weiter weg. Aber, siehe: eine Leserin, mitten im Wettkampf, unter einem Sonnenschirm, und wenn man sich jetzt die ganzen Zuschauer bei den Olympischen Spielen seinerzeit wegdenkt, schaut es so aus, als sei Milena Rezkova in der Sommerfrische. Rezkova stammte aus Prag, aus Holosevice, einem Arbeiterviertel an der Moldau. Sie war eine relativ kleine Hochspringerin und musste eine starke Brille tragen, wenn sie sprang, sprang sie eigentlich immer in den Nebel. Kein Mensch hatte sie auf dem Zettel, wie man so sagt, als es damals losging: Wenn sie nicht springen musste, las Rezkova Seite um Seite – und sie lachte oft lauthals, ja wirklich. Als ginge sie das Drumherum alles nichts an.

Plötzlich wollten alle an die Themse

Das Buch war von Jerome K. Jerome, „Three Men in a Boat“. Jerome stammte aus Staffordshire, heiratete 1888 und unternahm mit seiner Frau anschließend eine Fahrt auf der Themse, die dem Buch (und anderem Personal) den Rahmen gibt. Als es 1889 veröffentlicht wurde, wollten auf einmal alle möglichen Menschen, vor allem Amerikaner, aber auch Russen, ebenfalls auf der Themse fahren, wenn es da so lustig zugehe wie in dem Roman. „Drei Mann in einem Boot“ wurde ein Welterfolg. Wer etwas über englischen Humor und Ironie wissen will, kann hier mit dem Grundstudien beginnen. Milena Rezkova jedenfalls hatte ihren Spaß damals in Mexiko, und sie machte Jerome in Prag und in der Tschechoslowakei noch bekannter, als er ohnehin schon war.

Als sie das Buch in Mexiko-Stadt zum letzten Mal weglegt, liegt die Latte auf 1, 82 Meter. Sechs Anlaufmeter später ist Milena Rezkova Olympiasiegerin. Ein Jahr später wird sie auch Europameisterin. Die „Drei Männer im Boot“ sind nicht mehr im Gepäck, dafür aber ein tschechischer Roman, auch ein humorvoller: „Saturnin“, von Zdenka Jirotky, ebenfalls eine Liebhaberin von Jeromes Schriften. Später bekommt Milena Rezkova zwei Kinder, wird noch oft tschechoslowakische Meisterin – und bestreitet ihren letzten Wettkampf 1977, mit 27 Jahren. Eine internationale Medaille gewinnt sie nicht mehr, und zwei so wertvolle reichten ihr vollauf. Sehr wahrscheinlich hat sie aber einfach nicht mehr das passende Wettkampf-Buch gefunden.