Was eine ganze olympische Nacht vor dem Fernseher so alles mit sich bringt. Ein Selbstversuch von Peter Stolterfoht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Good morning, gnädige Hoheit. Im Dämmerzustand schaue ich in das Gesicht von Prinzessin Anne. Die englische Königstochter sieht müde aus, so wie ich vermutlich auch. Es ist 4.15 Uhr (MESZ). Ich liege auf dem Sofa und schaue fern. Gerade hatte ich allerdings kurz die Grenze zum Land der Träume überschritten. Jetzt bin ich wieder zurück und setze meinen TV-Marathon fort, bei dem ich häufig Prinzessin Anne begegne. Jetzt beklatscht sie auf der Ehrentribüne des Schwimmzentrums von Rio die Siegerehrung mit Michael Phelps, der über 200 Meter Schmetterling gerade seine 20. olympische Goldmedaille umgehängt bekommt.

 

Ein paar Stunden zuvor hat Prinzessin Anne selbst die Medaillen beim Mannschaftswettbewerb der Vielseitigkeitsreiter verteilt. Mit diesen Bildern hat meine olympische Nachtschicht gegen 19 Uhr begonnen. Ein Selbstversuch soll folgende Frage beantworten: hält ein durchschnittlich trainierter Fernsehzuschauer das volle olympische Nachtprogramm bis morgens 5.15 Uhr durch? Die Antwort lautet: mit kleineren Regenerationspausen: ja. Ich gehe jedenfalls wach durchs Ziel. Hier mein Beweis: Als letzter ZDF-Beitrag des olympischen Dienstags in Rio, der in Stuttgart schon lange ein Mittwoch ist, wird das Porträt des Seglers Philipp Buhl aus Immenstadt gesendet. Der Allgäuer hat im Laser-Wettbewerb allerdings einen durchwachsenen Start erwischt. Das ist Täterwissen.

Mein Auftakt am Dienstagabend ist verheißungsvoll. Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein nimmt mich gleich mal mit zu einer Runde „Olympia kompakt“. Dort erfahre ich, dass soeben die deutsche Mannschaft Silber in der Vielseitigkeit hinter Frankreich geholt hat und die DHB-Handballer Polen geschlagen haben. So kann’s weitergehen.

Wer aus Darmstadt kommt, kommt überall zurecht

Da kommt auf dem Sofa gleich ein richtiges Wir-Gefühl auf – auch wenn man dort allein sitzt. Wir schalten um zum Schwimmen ins Aquatics Stadium, wo der Brustschwimmer Marco Koch den Vorlauf analysiert. Sein Satz „Wer aus Darmstadt kommt, kommt überall zurecht“ wird mich durch die ganze Nacht tragen. Immer wieder sage ich ihn mir leise vor und ersetze Darmstadt bei Bedarf durch andere Orte. Durch Bad Soden oder Horb, zum Beispiel. Im Taunus ist Michael Jung geboren und im Schwäbischen gelandet. Und jetzt holt er auf Sam Einzelgold in der Vielseitigkeit, nur zwei Stunden nach Silber im Team.

Durchschnaufen, ausruhen, nachdenken – über: „Wer aus Darmstadt kommt, kommt überall zurecht.“ Erste Zweifel. Andrea Petkovic kommt doch auch aus Darmstadt und ist in Rio nicht zurecht gekommen. Das Aus in Tennisrunde eins.

Das Fernsehbild bringt einen auf anderen Gedanken. Zu sehen gibt es jetzt eine mächtige Schweizerin mit einer Pistole in der Hand. Eigene, parallel laufende Internetrecherchen am Smartphone ergeben, dass die nervenstarke Sportschützin in der Bundesliga für Dynamit Fürth am Start ist. Sie holt Bronze, Silber geht an die Deutsche Monika Karsch, die im Finale von der griechischen Studentin Anna Korakaki besiegt wird. Das ist jetzt ein wirklich interessanter Ausflug ins Schießzentrum gewesen.

„Wir schalten ganz schnell rüber zu Claudia Neumann nach Brasilien, äh, Brasilia“, so wird das Frauenfußballspiel zwischen Deutschland und Kanada angekündigt. Bei Olympia habe ich eigentlich überhaupt keine Lust auf Fußball, sondern will hier vor allem andere Sportarten anschauen. ARD und ZDF sehen das anders und übertragen die Spiele der deutschen Frauen und Männer in einer unverständlichen Ausführlichkeit. Zumal Claudia Neumann gleich mit einem echten Abtörner einsteigt. „Wir sehen hier zwei bessere B-Teams, weil beide Mannschaften schon fürs Viertelfinale qualifiziert sind.“ Entschuldigung, kurze Zwischenfrage: Warum zeigt Ihr das dann zur besten Sendezeit um 21.30 Uhr?

Weitere Recherchen ergeben, dass zeitgleich das Fechtfinale läuft, der Volleyball-Klassiker USA gegen Italien und vieles Interessantes mehr. Früher bekam man ein schönes olympisches Alternativprogramm auf den Spartenkanälen von ARD und ZDF angeboten, diesmal ärgerlicherweise nicht.

Erfrischungsstäbchen gegen die Müdigkeit

Wenigstens geht es irgendwann zum Kunstturnen, wo ich mir im Mannschaftsfinale aber schnell Sorgen um eine Brasilianerin am Schwebebalken mache die 1,33 Meter groß und nur 31 Kilogramm wiegt. Ich bekomme Hunger und werde gleichzeitig müde. Erfrischungsstäbchen aus dem Kühlschrank sind da ein probates Gegenmittel. Die Übertragungen vom Beachvolleyball und Kanuslalom helfen auch als Wachmacher. Aber dann platzt plötzlich um 0.25 Uhr die Zusammenfassung des Supercup-Endspiels zwischen Real Madrid und dem FC Sevilla in die olympische Berichterstattung. Aus Protest schlafe ich ein und wache immer wieder auf, erkenne schemenhaft Dimitrij Ovtcharov im Tischtennis-Viertelfinale verlieren und die deutschen Beachvolleyballerinnen gewinnen.

Was ist denn das für ein Krach? Ich habe so einen leichten Schlaf, dass ich manchmal von meinem eigenen Schnarchen aufwache. Jetzt zum Beispiel und sehe wie eingangs erwähnt: Prinzessin Anne. Die ist auch schon 65. Wie die Zeit vergeht. Es ist schon nach vier Uhr. Und der Schwimmer Paul Biedermann bleibt in seinen letzten Rennen ohne Medaille. Der Staffelkollege Florian Vogel weint deshalb ungeniert vor der Kamera, während Michael Phelps sein 21. olympisches Gold über 4 x 200 Meter Freistil mit Frau und dem Babysohn tränenreich feiert. Als Nächstes schluchzt in Großaufnahme ein argentinischer Fan über die Niederlage seines Rugby-Teams gegen Fidschi. Und jetzt noch den Bericht über den Segler anschauen. Dann aber ins Bett: mit fünf Ringen unter den Augen.