Am 7. Februar werden die Olympischen Winterspiele in Sotschi eröffnet. Die Kritik an dem Großereignis, das 50 Milliarden Dollar kostet, ist umfassend. Den Kremlchef Wladimir Putin ficht das aber alles nicht an.

Sotchi - Ein lauer Wind streicht durch die Wedel der Palmen an der Uferstraße in Sotschi. Sonnenhungrige bevölkern die Cafés und blicken verträumt auf das Schwarze Meer, das in der Wintersonne glänzt. Am östlichen Horizont bohren sich die schneebedeckten Dreitausender des nordwestlichen Kaukasus in den Himmel.

 

Sotschi, wo am 7. Februar die Olympischen Winterspiele eröffnet werden, fühlt sich an wie ein Stück von jenem „Land der Träume“, als das der frühere Präsident Dmitri Medwedew Russland einst bezeichnete. Es ist eine Stadt, die sich seit der Vergabe der Spiele 2006 durch ein milliardenschweres infrastrukturelles Update neu erfunden hat. Sotschi wirkt heute wie ein Ort aus der Zukunft. Hotels mit futuristisch geschwungenen Fassaden, große Shoppingmalls mit westlichen Designerboutiquen, mehrspurige Schnellstraßen, hypermoderne Nahverkehrszüge und Sportstätten.

Als der Badeort den Zuschlag des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) erhielt, sorgte das für Kopfschütteln bis Entsetzen. Es gab Wintersport in Sotschi und Umgebung damals nur in Simulationen. Vorhanden war: nichts. Außer subtropischem Klima, maroder Infrastruktur, der berüchtigten sowjetischen Servicementalität und massiven Sicherheitsbedenken.

Bedrohlich nahe liegt nicht nur die Rebellenrepublik Tschetschenien, die Moskau durch zwei lange Kriege zurückholte. Unruhig ist es auch in Russlands anderen nordkaukasischen Teilrepubliken. Rund 500 Kilometer von Sotschi entfernt hatten 2004 nordkaukasische Terroristen in Beslan in einer Schule mehr als 1000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, als Geiseln genommen. 331 Menschen starben, als Sicherheitskräfte das Schulhaus und die Turnhalle stürmten.

Erinnerungen an den Fünftagekrieg

Keine 40 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, dort, wo der Fluss Psou einen Steinwurf vom Olympischen Dorf entfernt in das Schwarze Meer mündet, verläuft wiederum die Grenze zu Georgiens abtrünniger Region Abchasien. Moskau unterstützte die Separatisten, seit Abchasien sich 1992 für unabhängig erklärte; Georgien wiederum stellte den tschetschenischen Untergrundkämpfern zeitweilig Teile seines Territoriums als Rückzugsgebiet zur Verfügung. Entsprechend angespannt ist das Verhältnis. Als die „Revolution der Rosen“ Ende 2003 in Tiflis eine pro-amerikanische Regierung an die Macht spülte, schaffte Moskau erst den visafreien Reiseverkehr ab und stoppte dann die Einfuhr von Weinen und Mineralwässern. Im August 2008 lieferten sich Tiflis und Moskau einen Fünftagekrieg, in dem es auch um die Kontrolle dieser Region ging. Kurzum, es sah eigentlich nicht gut aus für Olympia.

Putin streichelt die russische Seele

Warum die Spiele trotzdem hier landeten? Viele glauben: wegen ihm, Wladimir Putin. Um die Herren der Ringe zu überzeugen, so ein Gerücht, habe der Präsident mehrere Stunden täglich daran gearbeitet, sein Englisch zu verbessern. Der Kremlchef, glauben seine Fans, habe schließlich durch seine Ausstrahlung gesiegt. Quatsch, ätzen wiederum Putins Gegner und sprechen von modernem Lobbyismus. Einfach nur ein schnöder Triumph des russischen Geldes?

Wie auch immer: Putin kehrte mit den Spielen aus Guatemala heim, und umgehend rangelten Russlands Oligarchen um den Zuschlag für Bauaufträge. Das Rennen machten zwei kremlnahe Multimilliardäre: In den Bergen baute Wladimir Potanin, der Herr eines verschachtelten Finanzimperiums, Pisten, Lifte und vor allem Nobelherbergen. In Sotschi, wo die Eissportarten ausgetragen werden und die Eröffnungs- wie Abschlussfeier stattfinden, fraßen sich die Baggerkolonnen auf Geheiß des Baulöwen Oleg Deripaska ins Erdreich.

Der ehemalige KGB-Mann Putin, das muss man ihm lassen, versteht sich darauf, in der russischen Seele zu lesen. Die schmerzt noch immer der Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau durch den Westen nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Dazu kommt, dass Russland trotz vieler außenpolitischer Bemühungen noch immer nicht den Status einer Supermacht für sich in Anspruch nehmen kann wie ihn einst die Sowjetunion inne hatte. Auch die G-8-Gruppe firmiert inoffiziell als G-7½. Trotz Vollmitgliedschaft bleibt Moskau bei den finanzpolitischen Konsultationen der führenden Industrienationen in Teilen nach wie vor außen vor.

Olympia ist Teil von Putins Außenpolitik. Spiele fürs russische Ego – und für seines. Glanzvolle 17 olympische Tage sollen nun nach innen und nach außen wirken. Putin hoffte, dass mit Spielen, wie die Welt sie noch nicht sah, auch die westliche Kritik am russischen Sonderweg zu Rechtstaatlichkeit und Demokratie sowie der Menschenrechtssituation verstummt. Dass sie untergeht in einem Rausch der Bilder.

Olympia um jeden Preis

2006 begann also in Sotschi die Metamorphose, das Projekt Olympia aus dem Nichts. Der Preis? Um jeden Preis. Es sind schließlich Putins Spiele. Mitte Januar verlautbarte das Organisationskomitee, dass die Spiele bisher fast 50 Milliarden Dollar gekostet hätten. Bei der ersten Kalkulation glaubten die Kassenwarte noch, mit weniger als einem Fünftel über die Runden zu kommen. Kritiker erklären die Kostenexplosion vor allem mit Russlands Erbsünde: Korruption. Rund ein Drittel – 13 Milliarden Dollar – rügte Anfang Januar sogar das IOC-Mitglied Gian-Franco Kasper, seien offenbar in dunklen Kanälen versickert.

Die Spiele von Sotschi kosten nicht nur so viel wie alle anderen Winterspiele zusammen, sondern sie sind wohl auch die skandalträchtigsten. Hunderte Hausbesitzer und Laubeninhaber wurden enteignet, weil ihre Parzellen für das Eisstadion und das Olympische Dorf gebraucht wurden. Abgefunden hat man sie mit Summen weit unter dem Marktwert. Vor allem aber an der Situation der Arbeiter, die so desaströs wie jene auf den Baustellen für die Fußball-WM 2022 in Katar sein soll, hat es heftige Kritik gegeben.

Die Spiele würden auf den Knochen von miserabel entlohnten und wie Sklaven ausgebeuteten und behandelten Gastarbeitern errichtet, sagte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Demzufolge schufteten mehr als 16 000 Ausländer – vor allem Ukrainer, Serben, Armenier, Usbeken, Kirgisen und Tadschiken – für Hungerlöhne zwölf Stunden täglich auf den rund 800 Olympia-Baustellen. Oft sieben Tage die Woche. Ohne Urlaub, ohne Kranken- und Unfallversicherung. Vielen sei sogar der Reisepass abgenommen worden, damit sie das Elend durch Flucht nicht beenden könnten, heißt es in einem 67-Seiten-Report, den die Organisation 2013 dem IOC übergab.

Das IOC? Schwieg. Wie meistens. Auch für den Kampf von Umweltschützern konnte sich das IOC nicht recht begeistern und verließ sich auf das russische Organisationskomitee. Das verkaufte dem IOC „grüne Spiele“, die Aktivisten der „ökologischen Wacht des Nordkaukasus“, die anfangs mit der Staatsholding Olympstroi kooperierten und 2010 die Zusammenarbeit wegen nicht eingehaltener Versprechen aufkündigten, sprechen dagegen von „Raubbau an der Natur“. Neben den Rodungen für Pisten, Loipen und Lifte in Landschaftsschutzgebieten mit bedrohter Flora und Fauna sei seit Beginn der Bauarbeiten auch die Belastung durch zusätzliches Abwasser dramatisch gestiegen, so die Umweltschützer. Das meiste davon fließt ins Schwarze Meer.

Tragödie der Tscherkessen

Da wäre dann auch noch die Tragödie der Tscherkessen, der Ureinwohner der Region um Sotschi. Dort, wo in Krasnaja Poljana die Alpin-Wettbewerbe stattfinden, stürzten sich 1864 nach der Niederlage der Kaukasusvölker in ihrem mehr als hundertjährigen Krieg gegen Russland Hunderte Tscherkessen in die Schlucht, um der Deportation zu entgehen. Ein Großteil der Volksgruppe war im Krieg von der Zarenarmee brutal niedergemacht worden. Zwischen 500 000 und einer Million sollen dazu vertrieben worden sein, mindestens 100 000 seien dabei gestorben. Moskau hat sich bis heute nicht bei den 700 000 Tscherkessen, die noch in Russland leben, entschuldigt und plant im Olympia-Begleitprogramm sogar eine Nachstellung der historischen Siegesparade zum 150. Jahrestag. Die Tscherkessen? Deren Symbole wurden als Maskottchen verworfen, ihre Sprecher sind zum Schweigen über die Diskriminierung gebracht worden.

PR-Gau statt PR-Coup

Schweigen ist Gold? Außen vor bleiben auch politische Gegner und sexuelle Minderheiten. Zwar kassierte der Kremlchef das Kundgebungs- und Demonstrationsverbot für die Spiele wieder, das er im August selbst erlassen hatte. Doch Proteste sind nur am Stadtrand erlaubt. Man werde sich nicht in einen Park für Exoten jagen lassen, drohte eine Aktivistin der Schwulen- und Lesbenbewegung. Zeitgleich zur Eröffnungsfeier werde es vor der Arena eine Regenbogenparade geben. Man hoffe auf „zahlreiche Mitwirkung der Schwestern und Brüder“ aus den USA und Westeuropa.

Tag für Tag machen so neue negative Meldungen die Runde. Dazu kommen Berichte über Zensur. Erst gestern warf eine Organisation zum Schutz der Pressefreiheit aus den USA den Behörden vor, im Zusammenhang mit den Spielen Journalisten zu bedrohen und kritische Berichterstattung zu sozialen Missständen verhindern zu wollen. Es herrsche ein „repressives Klima“, kritisierte das „Committee to Protect Journalists“. Das Vorgehen Moskaus erinnere an die Zeiten der Sowjetunion. Ein weiterer von so vielen Punkten, die weltweit für Diskussionen sorgen und so gar nicht in das Kreml-Konzept passen. Der PR-Coup Olympia hat sich in den vergangenen Monaten zu einem PR-Gau entwickelt.

120 000 Olympia-Touristen werden erwartet

Die Spiele in Sotschi, so sorgt sich bereits die sonst eher für ein positives Russlandbild zuständige halbamtliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti, könnten „rein russische Spiele“ werden: Von den 120 000 Fans, mit denen die Gastgeber rechnen, würden 75 Prozent Bürger der Russischen Föderation sein. Neben Reisewarnungen aus den USA schreckt westliche Besucher der Visumzwang sowie möglicherweise auch die geplante totale Überwachung von Mobilfunk und Internet ab.

Der Inlandsgeheimdienst FSB will damit Geiseldramen und Sprengstoffanschläge verhindern. Denn das Gespenst des Terrorismus geht, wie die Tragödie in Wolgograd im Dezember zeigte, im Süden des Landes nach wie vor um. Nach der umstrittenen Befriedung Tschetscheniens hat sich der radikale Flügel der Guerilla in andere nordkaukasische Teilrepubliken verzogen und dort Machtstrukturen aufgebaut.

Alles andere als gute Voraussetzungen für Tourismus aus dem Ausland, dabei gibt es im knapp 350 000 Einwohner zählenden Sotschi, wo der Sage nach Prometheus an einen Felsen geschmiedet worden sein soll, inzwischen 42 000 Hotelbetten. Fast so viele wie in Moskau – und meist im gleichen „preisintensiven Segment“, wie die Abzocke dezent umschrieben wird. Investoren fragen sich längst: Wie kriegen wir die Bettenburgen bloß voll, wenn Olympia und der G-8-Gipfel im Juni vorbei sind?