Die Frauenabfahrt zeigt, wie unterschiedlich der Jubel ist. Bei der drittplatzierten Lindesy Vonn fließen Tränen – obwohl die Wissenschaft behauptet, dass der Bronze-Rang mehr Freude hervorruft als der Gewinn von Silber.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Pyeongchang - Man hätte darauf wetten sollen. Es war damit zu rechnen, das Lindsey Vonn weinen würde nach dem Abfahrtslauf. Entweder, weil sie nach 2010 auch 2018 wieder Olympiasiegerin in dieser Disziplin wird. Oder weil sie knapp am Podium vorbeirast. Oder weil sie aus irgendwelchen Gründen irgendwo im Niemandsland der Ergebnisliste landet. Machen wir es kurz: Die US-Amerikanerin wollte 2926 Tage nach ihrem Olympia-Triumph in Vancouver auch auf der anderen Seite des Globus in Pyeongchang Abfahrts-Gold. Das aber wird ihr von Sofia Goggia aus Italien vermasselt, Silber schnappt sich Ragnhild Mowinckel aus Norwegen, Vonn landet immerhin auf dem Bronzerang. „Ich habe viele Emotionen. Ich bin aber sehr stolz, was ich geleistet habe. Die letzten acht Jahre waren nicht einfach“, sagte die 33-Jährige, „ich habe alles gegeben – man kann nicht mehr als 100 Prozent geben.“

 

„Das berührt mich alles sehr“

Sie gibt auch nach dem Wettkampf alles. Beim Abklappern der TV-Stationen spielt Lindsey Vonn die Rolle, die ihr bei Interviews nach einem Skirennen auf den Leib geschnitten scheint. Tapfer beantwortet sie die Fragen, setzt ein Lächeln auf, um dann in Tränen auszubrechen. Dies wiederholt sich mehrfach bei verschiedenen Sendern bis sie entschwindet. Später in der Siegerpressekonferenz ist sie zunächst wieder im mentalen Gleichgewicht. „Sofia war stark“, sagt sie und lächelt, „ich bin ein wenig zu sehr auf der Ideallinie geblieben, das war nicht gut – aber ich bin stolz, aufs Podium gekommen zu sein in meinem letzten großen Abfahrtsrennen.“ Bei den letzten Worten hat der Medienstar einen Klos im Hals und die nächste Frage, die davon handelt, dass es die letzten Olympischen Spiele der Lindsey Vonn gewesen sind, weckt das limbische System, das für Gefühle zuständig ist. „Ja, deshalb bin ich so emotional“, sagt sie mit erstickter Stimme, „ich liebe all das, außerdem sind meine Eltern hier, die ich auch sehr liebe und viele Fans, ich habe viele US-Flaggen gesehen. Das berührt mich alles sehr.“

Wissenschaft untersucht Glücksempfinden von Medaillengewinnern

Jetzt weint sie nicht mehr, doch so richtig glücklich über Bronze scheint die bis heute erfolgreichste Skirennläuferin nicht zu sein. Glücklich sein geht anders. Eigentlich hätte Lindsey Vonn ja nichts Besseres passieren können als Bronze zu gewinnen, abgesehen von einem Olympiasieg natürlich. Es existieren viele wissenschaftliche Untersuchungen über das Glücksempfinden von Medaillengewinnern, und da schneiden die Drittplatzierten nach den Siegern am besten ab. Ursache ist die Was-wäre-wenn-Frage, wie Psychologen der Northwestern University’s School of Management in Illinois dieses Paradoxon beschreiben; wissenschaftlich ausgedrückt: das Phänomen des kontrafaktischen Denkens. Bronze-Gewinner denken demnach häufiger, dass sie wenigstens etwas bekommen, das erzeugt und steigert Zufriedenheit. Athleten auf Platz zwei trauern oft der verpassten Chance auf Gold nach – dass Silber objektiv bewertet besser ist als Bronze, wird ausgeblendet.

Wahrscheinlich kennt Ragnhild Mowinckel diese Studien nicht. Oder sie hat sie ausgeblendet, denn die Norwegerin strahlt über beide Backen, und es sind keinerlei Anzeichen von kontrafaktischem Denken zu erkennen, dabei hätte sie allen Grund dazu – ihr fehlten neun Hundertstel zu Gold. „Unglaublich, das hätte ich nie gedacht“, sagt die 25-Jährige aus Molde, „ich bin wahnsinnig glücklich.“

Siegerin Sofia Goggia bleibt kontrolliert

Ein Blick in ihr Gesicht beweist: Das ist keine Lüge, was die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Silbermedaillen-Gewinner erschüttert. Umso mehr, als Sofia Goggia ihr Statement abgibt. Da ist sie die erste italienische Olympiasiegerin in der Abfahrt, da beschreibt sie sich im Athletenhandbuch selbst als kleinen Vulkan, dann spricht sie nüchtern und kontrolliert über ihr Erfolgsgeheimnis. „Ich habe mich vollkommen auf mich fokussiert, ich habe an nichts anderes gedacht vor dem Start“, sagt die 25-Jährige, deren Paradedisziplin die Abfahrt ist, wo sie die Weltcup-Wertung vor Vonn anführt, „ich habe mir nach meinem Fehler im Super-G geschworen, dass ich die beste Abfahrt hinlegen will, die ich kann. Das war perfekt.“ Natürlich strahlt Goggia, aber da hat Pyeongchang schon Sieger gesehen, die ihre Emotionen tatsächlich wie ein ausbrechender Vulkan herausgeschleudert haben.

Rebensburg fährt auf Platz neun

Und die Deutschen? Viktoria Rebensburg belegt Platz neun, Kira Weidle liegt zwei Ränge dahinter. Dass eine Rennläuferin, die schon einen Olympiasieg (wenn auch im Riesenslalom) geholt hat mit Position neun nicht zufrieden ist, dafür benötigt niemand eine Untersuchung. „Ich kann noch nicht sagen, wo ich die Zeit verloren habe, speziell im Mittelteil“, erläutert die Rennfahrerin vom Tegernsee, „das hier ist eine schwierige Abfahrt, da darf man nicht auf der Ideallinie fahren, sondern muss die Ski gehen lassen.“ Auch das Olympiafazit der 28-Jährigen fällt mäßig aus, sie wollte den „Flow“ aus den Weltcup-Rennen mitnehmen, doch zu einer Medaille hat’s nicht gereicht. „Es wäre schön gewesen, was mit nach Hause zu bringen.“

Im Riesenslalom verhinderte ein Patzer einen sicheren Podiumsplatz, stattdessen wurde es Rang vier. Zwölf Hundertstel fehlten zu Bronze, und eines ist hinlänglich bekannt – auch ohne Unterstützung von Professoren: Platz vier ist der undankbarste bei Olympischen Spielen.