Aus Angst vor Ansteckung wird die Sitzung des Reutlinger Kreistags auf den Parkplatz hinterm Landratsamt verlegt. Dick eingepackt und mit Kaffee trotzen die Räte stundenlang der Kälte – nur den notwendigen Mindestabstand halten nicht alle ein.

Reutlingen - Auf dem Spielplatz nebenan unterbrechen die Jungs neugierig ihr Gekicke, um sich eine ziemlich ungewöhnliche Versammlung vor laufenden Fernsehkameras anzuschauen. Die Kleinen pfeifen durch den Zaun, winken hinüber zum Parkplatz des Reutlinger Landratsamtes, wo der Kreistag am Montagnachmittag unter freiem Himmel tagt. „Außergewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Lösungen“, grüßt Landrat Thomas Reumann in die Runde und hat das Gremium an die frische Luft gebeten. Aufgrund der relativen Enge im Großen Sitzungssaal wollte er nicht riskieren, dass das Corona-Virus von einem Kreisrat zum anderen übertragen wird. Absagen war für den Landrat keine Option, weil ansonsten ausgerechnet inmitten der Corona-Krise die drei Kreiskliniken im Kreis Reutlingen mit rund 2000 Mitarbeitern ohne Leitung geblieben wären. Der Vertrag mit der neuen Geschäftsführung musste abgesegnet werden. Die Kreistagssitzung an einen anderen Ort zu verlegen, der Stadthalle etwa, in der man die Sitzungstische mit viel Platz dazwischen hätte anordnen können, wäre nicht praktikabel gewesen, habe man doch zu einer öffentlichen Sitzung geladen. Die Öffentlichkeit hätte man so kurzfristig nicht mehr über eine andere Örtlichkeit informieren können.

 

Eine große Leinwand ist aufgestellt, eine Lautsprecheranlage installiert

So nehmen dort, wo sonst die Autos der Beamten parken, die Kreisräte an den aufgestellten Tischen Platz. Die Sitzordnung draußen für die 67 Mitglieder gleicht jener drinnen. Eine große Leinwand ist aufgestellt, eine Lautsprecheranlage installiert. Ganz vorne ist eine Tischreihe für den Landrat und die Verwaltung reserviert. Selbst die Messinglocke, die Reumann mit dem Holzhammer zum Klingen bringt, wenn Tumult im Gremium aufbrandet, ist in den Hof hinterm Landratsamt getragen worden. Alles ist schwäbisch korrekt, alles bestens vorbereitet – ein ordentlicher Mindestabstand zwischen den Kreisräten vorgesehen.

Doch während die künftigen Geschäftsführer ihre Konzepte vorstellen, erklären, wie der Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise der Kliniken aussehen könnte, rücken die Kommunalpolitiker immer enger zusammen. Da wird Kopf an Kopf getuschelt, am Rande des Parkplatzes suchen sich die Frierenden mit ihrem Stuhl noch einen Rest Sonne. Die eine oder andere Decke wird ausgepackt und mit Kaffee die aufziehende Kälte bekämpft.

Eine Eilentscheidung des Landrats wäre auch möglich gewesen

„Wir erhöhen unseren Sauerstoffspiegel“, scherzt Münsingens Bürgermeister Mike Münzing ins Mikro. Der SPD-Mann hätte sich anstelle der Open-Air-Runde lieber eine eigenmächtige Eilentscheidung des Landrats gewünscht. Aufgrund der Dringlichkeit durchaus eine erlaubte Option. „Das war die einzige Möglichkeit, damit die Sitzung stattfindet“, lobt Grünen-Kreisrat Karsten Amann die Entscheidung für den Parkplatz, „sonst wären zu viele weggeblieben.“

Mit großer Mehrheit stimmen die Räte für einen Managementvertrag mit der Regionalen Kliniken Holding (RKH) Ludwigsburg. Die Auslastung erhöhen, die Personalquote senken, das sind die Pläne von Jörg Martin und Dominic Nusser, die bei weitem nicht nur gut geheißen werden. Die Sonne ist längst hinterm Landratsamt untergegangen, mehr als zwei Stunden wurde debattiert, kritisiert, gefroren. Landrat Reumann ist bester Dinge: „Es war wichtig, eine öffentliche Diskussion zu führen.“