Oper im Kunstmuseum Klanggrüße aus der digitalen Steinzeit

Bei „The great Wayfinders“ kommt einiges zusammen – Vocalsolisten, Technik, Musikinstrumente und Kunst. Foto: Gerald Ulmann

Bei der Kammeroper „The great Wayfinders“ finden im Kunstmuseum Stuttgart Musik und Kunst, Digitales und Analoges zusammen.

O weh, wo ist der Weg bloß hin? Der Wald ist dunkel, ängstlich beginnen die Kinder zu singen: „Abends will ich schlafen gehen, vierzehn Englein um mich stehn.“ Aber nein, wir sind nicht in der Oper, nicht bei „Hänsel und Gretel“. Sondern im Stuttgarter Kunstmuseum. Auch hier werden Wege gesucht. Und Hänsel und Gretel sind ganz viele: Johanna Vargas, Helena Sorokina und Andreas Fischer von den Neuen Vocalsolisten, dazu fünf Mitglieder des Ensembles Musikfabrik. Für die Englein sorgt die Technik: Sie schafft einen Resonanzraum, in dem Analoges zu Digitalem transformiert wird.

 

Komponist und Digitalkünstler entwickeln Oper

Denn genau darum geht es der Kammeroper „The great Wayfinders“, die der Komponist Marcus Schmickler gemeinsam mit dem Digitalkünstler Tim Berresheim zur Feier des Doppeljubiläums im Haus und mit etlichen Verweisen auf Humperdincks Stück konzipiert hat. Zumindest im zweiten Schritt. Der erste ist das Staunen. Auf einer quadratischen Spielfläche bewegen sich die Musikerinnen und Musiker in Laborkitteln, untersuchen die Instrumente, die um sie herum aufgebaut sind, singen und spielen. Glocken aus Glas, Metall und Ton, Marimbas aus Bambus, eine Zither, bunte Trommeln und Flöten. Der US-amerikanische Komponist Harry Partch hat sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts für sein eigenes Tonsystems entwickelt, das Ensemble Musikfabrik hat sie nachgebaut. Nun dienen die Instrumente Schmickler als Basis, denn bei ihm wie bei Partch geht es um den Brückenschlag zwischen archaisch wirkenden Klängen und einer imaginierten musikalischen Zukunft. Von ihr aus blicken wir zurück auf unsere Gegenwart, die hier als „digitale Steinzeit“ bezeichnet wird. Dass das Stück im Untertitel „Höhlenmusik“ heißt, verweist sowohl auf Tim Berresheims Vermessungsarbeit im Donautal als auch auf die Musikinstrumente, die dort gefunden wurden. So viel zu den Voraussetzungen eines Abends, der (zum Glück!) viel mehr ist als klingendes Thesenpapier.

Die Klänge entwickeln einen eigenen Sog

Zwar bleibt das Bühnenbild – auf Stellwänden an der Seite sieht man Kunstwerke Berresheims mit verwirrend montierten Treppen und Höhlen sowie einen digital bewegten Avatar – eine visuelle Randnotiz, und auch das Spiel auf der Bühne kommt ziemlich hölzern daher. Die Klänge selbst aber entwickeln einen Sog, vor allem dort, wo analog auf der Bühne Musiziertes, live-elektronisch Verändertes und rein Digitales auf ununterscheidbare Weise zusammenfließen. Schmicklers musikalische Versatzstücke reichen bei den Neuen Vocalsolisten von madrigalischen Terzetten über hochvirtuose Ornamentik bis zum Popsong, beim Ensemble von minimalistischen Patterns über Töne auf dem Nachbau einer Gänsegeierflöte bis hin zu nerdigen Sounds auf einem (für temperierte Ohren) total verstimmten Harmonium. „Die Geräusche“, so eine eingespielte Sprechpassage, „stimmen einen Choral an, den niemand mehr versteht, die Nachahmung von Erinnerung, präzise, falsch, schön“. Das trifft’s auf den Punkt. Und am Ende? Geht’s zurück in den Wald. Wasser, Vögel, Atem, Stimme, das ist alles nie weg gewesen. Der Schlusssatz: „Remember that you live here.“ Ein guter Rat.

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