In Burkina Faso wächst das Projekt, das der 2010 gestorbene Regisseur Christoph Schlingensief begonnen hatte, Schritt für Schritt seiner Verwirklichung entgegen.

Burkina Faso - Hier ist es also. Etwa eine Stunde braucht man mit dem Taxi von der Hauptstadt Ouagadougou bis ins „Village opéra de Schlingensief“. Der Taxifahrer hat sich den Weg erklären lassen, er ist noch nie hier gewesen. Ja, er habe von einer neuen Schule gehört, draußen in der Nähe von Ziniaré, dem Geburtsort des Präsidenten Blaise Compaoré. Ach, ein Kunstprojekt? Ein Operndorf? Sétou Soro, eine junge Frau, die uns begleitet, hat noch nie von Schlingensief gehört. „Sehr hübsch“ findet sie den modernen Komplex. Dann meldet ihr vierzehn Monate alter Sohn Hunger an, und sie wendet sich ihm zu.

 

Séverin Sobgo, der Assistent der burkinischen Geschäftsführung führt routiniert über das Gelände. Hier, links, die fast fertigen Gästepavillons; rechts Lagerräume, Küche, Speisesaal; dort, am anderen Ende, die sanitären Anlagen. Doch die sind noch nicht in Benutzung. Drei deutsche Touristen streunen zwischen den leeren Gebäuden umher und machen Fotos. Nur aus einem Klassenraum ertönen aufgeregte Kinderstimmen. Denn seit Oktober herrscht Leben in der westafrikanischen Dauerbaustelle, die ersten fünfzig Schüler sind eingeschult, montags bis samstags kommen sie aus den umliegenden Dörfern und lernen hier Lesen, Schreiben und Rechnen. Gerade machen sie eine Pause und warten auf den Lehrer. Schlingensiefs Erstklässler. Von ihrer großen Bestimmung wissen sie noch nichts, auch mit Film und Theater können sie bisher wenig anfangen. „La pipe de papa“ steht mit bunter Kreide auf der Tafel, „die Pfeife von Papa“. Heute steht der Buchstabe P auf dem Programm.

Das Operndorf von Christoph Schlingensief ist ein kultureller Schmelztiegel mitten im kleinen westafrikanischen Binnenland Burkina Faso, rund 35 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Ouagadougou. Ein Ort, an dem Kinder lernen, leben und sich künstlerisch entfalten können, ohne institutionalisierte Kulturbilder aus dem Westen, ohne vorgefertigte Maßstäbe dessen, was Kunst bedeutet, ohne Zeit- und Leistungsdruck. Ein Ort, an dem Kunst „aus sich heraus entsteht“ und ein Ort, von dem wir Europäer lernen sollen. So oder so ähnlich sah Christoph Schlingensiefs letzte Vision aus.

Zwanzig Prozent künstlerische Kurse

Dreizehn Gebäude aus rotem Lehm sind seit der Grundsteinlegung vor gut zwei Jahren fertiggestellt. Sie sind schlicht, fügen sich gut in die Umgebung ein und fallen doch auf mit ihrer modernen Architektur mitten im ländlichen Savannengebiet Burkina Fasos. Entworfen hat den Komplex der in Berlin lebende Burkinabé Francis Kerré. „Insgesamt soll es sechs Klassen geben. Achtzig Prozent des Unterrichts sind klassische Schulfächer, zwanzig Prozent werden künstlerische Kurse“, erklärt Séverin Sobgo in nahezu fehlerfreiem Deutsch.

In Planung sind eine Krankenstation, eine Solaranlage und irgendwann einmal das Herzstück des kleinen Dorfes: das schneckenförmige Festspielhaus. Wo es entstehen soll, ist das Gelände mit weiß-roten Holzpfosten abgesteckt, dreizehn Container voller Sitzbänke und anderer nützlicher Gegenstände stehen am Rand des Grundstücks und warten auf ihren Einsatz.

Ende März war Aino Laberenz mal wieder für zwei Wochen in Burkina Faso. Die Witwe von Christoph Schlingensief und Erbin seiner gigantischen Operndorf-Vision hat nach der großen Kunstauktion im März eine Million Euro für den Weiterbau des Projektes zur Verfügung. Wie genau der nun vorangehen soll, wollte sie vor Ort planen, bis zum Beginn der Regenzeit im Juni/Juli müssen zumindest die Fundamente der Krankenstation fertig sein.

Zweifler gibt es reichlich

„Wir haben noch keinen Zehnjahresplan, wir gehen Schritt für Schritt vor“, sagt Aino Laberenz, die tapfer in die Fußstapfen ihres verstorbenen Mannes getreten ist. Mehrfach hat die 31-jährige Kostümbildnerin betont, wie wenig wohl sie sich im Rampenlicht fühle, wie ungern sie Interviews gebe. Klein, zart und zurückhaltend – sie ist nun diejenige, die Schlingensiefs Vision vorantreibt. Doch sie scheint in ihre Rolle hineingewachsen zu sein, hat sein Projekt zu ihrem gemacht. Aino Laberenz spricht mittlerweile selbstsicher mit Journalisten und hat gelernt, das Operndorf gegenüber Zweiflern zu verteidigen.

Solche gibt es reichlich. Geht das Projekt nicht an der Lebensrealität der Burkinabé vorbei, fragen sie. Und wie das denn überhaupt zu finanzieren sei. Wo Afrika für die meisten Deutschen doch so weit weg ist, ein Kontinent für den Kinderpatenschaften verkauft und rostige Fahrräder gesammelt werden. Aber ein Kulturprojekt? Wer soll überhaupt hierher aufs Land kommen, über die unbeleuchteten Straßen und sich die Aufführungen der Schüler anschauen? Diese Fragen stellt sich auch Henner Lichtenfels, einer der drei Touristen, die das Gelände an diesem Mittwoch besichtigen. Der Rentner lebt seit August in Burkina Faso, seine Frau arbeitet in der Entwicklungszusammenarbeit. Der Begriff der Oper an diesem Ort verwirrt auch ihn, vermutlich mehr als die meisten Burkinabé.

„Christoph hat das Dorf nicht als Opernbetrieb im klassischen Sinne gesehen“, antwortet Aino Laberenz auf solche Fragen. Und dass es den Kindern eine Art großer Werkzeugkasten sein soll. Sie wird nicht müde das Konzept ihres verstorbenen Mannes immer und immer wieder zu erklären. „Christoph hat sich selbst gefragt: Wie kam ich zum Film? Spielerisch.“ Es seien die ersten Jahre, in denen sich entscheide, wohin es geht. Sie meint die Kinder, könnte aber auch für das Operndorf sprechen.

Von großer Kunst ist noch nicht viel zu spüren

Das Festspielhaus selbst ist erst für die dritte Bauphase geplant. Jetzt, in der kommenden zweiten Bauphase, sollen weitere Klassenräume hinzukommen, eine Solaranlage und die Krankenstation. „Christoph hat diese Abschnitte eingeteilt, ich richte mich danach“, sagt sie. Die größte Hürde ist vorerst genommen: Durch das Geld der Kunstauktion, bei der am 8. März von Künstlern wie Georg Baselitz, Christo oder Sigmar Polke gespendete Werke zugunsten des Projekts versteigert wurden, ist der Weiterbau gesichert. Was eine Million Euro überhaupt bedeuteten, sei ihr erst nach und nach klar geworden, sagt Aino Laberenz. „Das ist eine ganz andere Form von Freiheit.“ Vorher habe sie sich für jeden Euro etwas einfallen lassen müssen. Der Kunstmäzen Friedrich Christian Flick versprach außerdem, als Grundstock für eine Stiftung 250 000 Euro zu spenden.

Vom Geist der großen Kunst ist noch nicht viel zu spüren. Aber in Ouagadougou dauert vieles seine Zeit. Das Leben folgt nicht unbedingt dem Rhythmus der Armbanduhr. Nach Schlingensiefs Tod waren Unsicherheit und Ratlosigkeit zunächst groß. Wohin steuert das Schiff ohne seinen Kapitän? Doch seit einem halben Jahr beantworten 25 Mädchen und 25 Jungen diese Frage, zumindest zum Teil. Im Herbst wird die zweite Klasse eingeschult. Dann sind es schon hundert Schüler.

Um diese Schule als Teil eines „Operndorfs“ zu sehen, braucht es noch einiges an Vorstellungskraft. „Aber das Potenzial ist da“, sagt Aino Laberenz. Sie hat eine eigene Vision: „Dass das Dorf eines Tages eigenständig bestehen kann.“ Dass burkinische Kinder von burkinischen Lehrern lernen, Workshops mit internationalen Künstlern stattfinden und sich eigene Projekte entwickeln. Hier in dem Land, das alle zwei Jahre zum größten afrikanischen Filmfestival Fespaco einlädt, das eine rege Theaterszene hat und in dem Musiker wie der Rapper Smockey die Bevölkerung aufrütteln. Er gehört zum burkinischen Operndorfkomitee. Und Smockey ist auch dem Taxifahrer Issa und der jungen Sétou Soro ein Begriff.