Die Staatsoper Stuttgart zeigt Giuseppe Verdis Frühwerk „Nabucco“ in einer Inszenierung von Rudolf Frey. Während die beiden Hauptrollen musikalisch nicht überzeugen, hat der Chor unter der Leitung seines neuen Direktors einen großen Abend.

Stuttgart - Jeden plagt ein Wehwehchen. Eine Frau verliert dauernd ein Taschentuch, ein Mann hat sich den Ellenbogen angeschlagen, ein Knöchel musste verbunden werden und einem anderen blutet die Nase. Geschlagen ist es, dieses jüdische Volk, es besteht aus Verwirrten, Unsicheren und Ratlosen, sie jagen durcheinander zur „Nabucodonosor“-Ouvertüre. Rudolf Frey, 29 Jahre, so jung wie der Komponist Giuseppe Verdi als er seine dritte und erste erfolgreiche Oper komponierte, inszeniert als wäre es ein Schulaufsatz: Charakterisieren Sie das Verhältnis der Massen- zur Individualtragödie in Verdis „Nabucco“ (so der eingebürgerte Name). Psychotranchieren ist zu vermeiden.

 

Jetzt tritt der Hohepriester Zaccaria hinzu, kein Mann des Ausgleichs, und schwört seine Glaubenstruppen ein mit geheimnisvollen Gesten: backe, backe Kuchen. Wenn das Volk es ihm nachtut, sieht das bald ziemlich albern aus – auch weil etliche Chorsänger auf die Nebenfrau oder den Vordermann schielen, da sie die Choreografie nicht drauf haben. So ist innerhalb der ersten Viertelstunde der Stuttgarter Premiere schon vieles verspielt – dabei geht es in Verdis Dramma lirico, das 1842 in Mailand an der Scala Premiere hatte, jetzt erst richtig los. Denn in den Tempel in Jerusalem dringen erst Abigaille, dann ihr Vater, der babylonische König Nabucco, ein, dessen zweite Tochter Fenena von Zaccaria als Geisel gehalten wird.

Dem Tod entgeht Fenena, weil der Jude Ismaele sie rettet, dabei sein Volk, die Hebräer, verratend: Er liebt Fenena, was wiederum Abigaille nicht gefallen kann, die selbst ein Auge auf Ismaele geworfen hat. Nabucco dankt es, indem er den Tempel niederbrennen lässt – die Szene würde der Zuschauer allerdings nur in Vorstellungen an der Met in New York mitbekommen, nicht in Stuttgart.

Freys Regie ist zu feingliedrig, schwer „lesbar“

Hierin offenbart sich – neben einer gewissen Spannungslosigkeit des Abends – eine Schwäche von Rudolf Freys Regie: Sie ist zu feingliedrig, schwer „lesbar“. Wie gelbe Notizzettel kleben Requisiten, Gesten, Dekorteile am Inszenierungskonzept, ohne dass eine übergreifende, fesselnde Erzählung zustande kommt. Mit der Situierung im Heute, an einem ortlosen Ort, meidet Frey zwar Religionsfolklore, unterläuft aber eine schlagende Figurenzeichnung. Wer sind die Juden, wer die Babylonier, wenn der Chor unterschiedslos in Schlips, Rock und Bluse auftritt? Beinahe zu dezent sind Rollensignets: Unter Ismaeles Strickjacke hängen die Schaufäden des Gebetstuchs, des Tallit, auf seinem schwarzen Haar ist die Kippa kaum auszumachen.

Abigaille und Fenena verbindet die Liebe zu ihm, der Silberstrass ihrer Kostüme (Silke Willrett, Marc Weeger) deutet es an – ansonsten sind sie einfach zwei Frauen, weder Schwestern noch Rivalinnen. Und Fenenas Übertritt zum jüdischen Glauben, der später mit strenger Nachhilfe durch den Oberpriester beim Schwur auf die heilige Schrift vollzogen wird, wird einfach zu weit hinten an einem großen Esstisch abgehandelt, als dass er sinnfällig würde.

Die kulissenfreie Bühne von Ben Baur akzentuiert die Setzung „alles nur Theater“. Ein zusätzliches schwarzes Proszenium, eine mit Silberfransen versehene Sargdeckengardine, sichtbare, skulptural-dekorativ herabhängende Scheinwerfer sollen den Opernbesucher darauf hinweisen, dass er hier nur Spiel erwarten darf, als ob er diesen Kontrakt mit dem Kauf seiner Eintrittskarte nicht längst abgeschlossen hätte. Nach dem grauen Jerusalem mit Salomos unsichtbarem Tempel findet Teil zwei in Babylon statt. Ein Goldpaillettenvorhang, dazu ein Podest, darauf ein langer Tisch und drei Stühle genügen, den Palast der Götzendiener darzustellen.

Mit der Gefährlichkeit eines Kartoffelsacks

Hier erhebt sich Nabucco selbst zum Gott, wofür Jehova ihn bestraft. Der Babylonier wird vom Blitz getroffen. Trat der amerikanische Bariton Sebastian Catana schon anfangs als Judenschlächter, der er bei Verdi ist, mit der Gefährlichkeit eines Kartoffelsacks auf, spielt und singt er jetzt ebenso ungenießbar den Umschlag des vom Blitz getroffenen Häretikers zum Neuglaubenden: nämlich gar nicht. Beim Blitz muss es sich um einen Mikrovoltschlag gehandelt haben. Egal ob brutal, wahninnig oder frömmelnd, Catanas Vokalpalette kennt nur einen Ton. Und bekanntlich gibt es schönere Farben als das Erdbraun seiner billigen Diktatorenuniform. Eng in der Höhe und in der Intonation gefährdet ist das kein Beispiel für Verdi-Schöngesang.

Das gibt auch Catherine Foster als Abigaille nicht ab. Zugegeben, das ist eine der anspruchsvollsten Verdi-Partien, hoch und runter durch die Oktaven treibt der Komponist den Sopran. Foster, aufs schwere Fach gebucht – sie singt im diesjährigen Bayreuther „Ring“ die Brünnhilde – hat sich eine Vokalisierungsstrategie zurechtgelegt, die sie durchdringend, aber selten klangschön durch den Abend trägt. Sie platziert die meisten Töne über der Mittellage um einen A-I-Vokal, der die größtmögliche Resonanzverstärkung garantiert. So lässt sich kaum eloquent deklamieren. Bei allen Koloraturen wird gemogelt, und vor allem bei absteigenden Phrasen intoniert sie schmerzlich zu tief. In ihrer großen Szene zu Beginn des zweiten Teils quetscht sie die tiefen Cs in die Bruststimme – ein klingendes Porträt hört sich anders an.

Der Chorhit der Chorhits

Ordentlichen Gesang bieten, obwohl etwas forciert, Liang Li als Zaccaria, Atalla Ayan mit freiem, wohlgeformtem Tenor und dem besten Italienisch des Ensembles, Diana Haller als Fenena und Ronan Collett. Der allerdings bringt in der zum Conferencier-Hampelmann umcodierten Rolle als Oberpriester des Baal eine überzeichnete und verzeichnende Verfremdung auf die Bühne. Dramaturgisch ist diese ebenso wenig produktiv wie der Herrenchor, der zur Cabaletta von Abigailles Arie im zweiten Akt eine affige und (absichtsvoll) ungelenke StraußfederwedelChoreografie vollführt.

„Nabucco“ ist die Oper mit dem Chorhit der Chorhits – und diese im Unisono schwebende „Va, pensiero“-Melodie ist beim Staatsopernchor bestens aufgehoben, genauso wie die saftigen Forte-Einlassungen (die Einstudierung hat der neue Chordirektor Johannes Knecht verantwortet). Der Dirigent Giuliano Carella hatte die Bühne-Graben-Koordination gut im Griff, die kompakte Instrumentation des jungen Verdis mit manchem Blechgewitter hätte jedoch mehr Auflichtung vertragen. Überhaupt fehlte den tänzerischen Girlanden ein trocken-federnder Zugriff, das Spiccato der Streicher hätte knackiger und lockerer zugleich sein können, die Rhythmik pointierter. Keinen guten Abend hatte eine scharfe Piccoloflöte, während die Cellogruppe mal wieder hingebungsvoll Weltklassesamt ausbreitete.

Stuttgart bekommt eine zweite Chance im Verdi-Jahr. Im Oktober gibt es einen neuen „Falstaff“ – den dirigiert der Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling.